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Der dunkle Wächter

Der dunkle Wächter

Titel: Der dunkle Wächter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carlos Ruiz Zafón
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mechanischen Eingeweide hören. Manchmal, wenn sie nicht schlafen konnte, stellte sie sich stundenlang vor, wie sie reglos dastanden, während ihre gläsernen Augen in der Dunkelheit funkelten.
    Sie hatte die Augen gerade wieder geschlossen, als sie zum ersten Mal das Geräusch hörte, ein regelmäßiges, vom Regen gedämpftes Klopfen. Hannah stand auf und tapste durchs Zimmer bis zum hellen Ausschnitt des Fensters. Das Gewitter hing nun über dem Gewirr der Türme, Bögen und verschachtelten Dächer von Cravenmoore. Die Wolfsmäuler der Wasserspeier spien Bäche schwarzen Wassers in die Tiefe. Wie sie diesen Ort hasste…
    Wieder drang das Geräusch an ihr Ohr, und Hannahs Blick fiel auf die Fensterreihe des Westflügels. Der Wind schien eines der Fenster im dritten Stock aufgestoßen zu haben. Die Vorhänge wehten im Regen, und die Fensterflügel schlugen immer wieder auf und zu. Das Mädchen verfluchte sein Schicksal. Allein die Vorstellung, auf den Korridor hinauszugehen und durch das ganze Haus bis zum Westflügel zu laufen, ließ ihr das Blut in den Adern gefrieren.
    Bevor die Angst sie von ihrer Pflicht abhielt, schlüpfte sie in einen Morgenmantel und Hausschuhe. Elektrisches Licht gab es nicht, also nahm sie einen Kerzenleuchter und entzündete die Kerzen. Ihr kupfergoldenes Flackern tauchte die Umgebung in unheimliches Licht. Hannah legte die Hand auf den kalten Türknauf des Zimmers und schluckte. In der Ferne schlugen immer wieder die Fensterflügel jenes dunklen Zimmers. Als warteten sie auf sie.
    Sie zog die Zimmertür hinter sich zu und sah sich der endlosen Flucht des Korridors gegenüber, der in der Dunkelheit verschwand. Sie hob den Kerzenleuchter hoch und trat in den Korridor, der von den im Nichts schwebenden Schattenrissen der schlaftrunkenen Spielzeuge flankiert wurde. Hannah sah stur geradeaus und ging rasch weiter. Im dritten Stock standen zahlreiche von Lazarus’ alten Automaten, Kreaturen, die sich ungelenk bewegten und deren Gesichtszüge häufig grotesk und nicht selten bedrohlich wirkten. Fast alle waren in Vitrinen hinter Glas gebannt, in denen sie plötzlich ohne Vorwarnung zu Leben erwachten, einem inneren Mechanismus gehorchend, der sie aufs Geratewohl aus ihrem mechanischen Schlaf erweckte.
    Hannah kam an Madame Sarou vorbei, der Wahrsagerin, die mit ihren pergamentenen Händen die Tarotkarten mischte, eine auswählte und sie dem Zuschauer zeigte. Trotz aller Bemühungen konnte das Mädchen nicht anders, als die gespenstische Gestalt dieser aus Holz geschnitzten Zigeunerin zu betrachten. Die Augen der Zigeunerin öffneten sich, und ihre Hände streckten ihr eine Karte entgegen. Hannah schluckte. Die Karte zeigte einen roten, in Flammen gehüllten Teufel.
    Ein paar Meter weiter pendelte der Rumpf des Maskenmannes von einer Seite zur anderen. Der Automat riss sich immer neue Masken herunter, doch das Gesicht blieb unsichtbar. Hannah wandte den Blick ab und ging hastig weiter. Sie war hunderte Male bei Tageslicht durch diesen Korridor gegangen. Es waren nur leblose Maschinen, die sie nicht beachten und erst recht nicht fürchten musste.
    Mit diesem beruhigenden Gedanken bog sie in den Korridor ein, der zum Westflügel führte. Auf einer Seite des Gangs stand das Miniaturorchester von Maestro Firetti. Gegen eine Münze spielten die Figuren eine besondere Version von Mozarts
Türkischem Marsch.
    Hannah blieb vor der letzten Tür des Korridors stehen, einer schweren Eichenholztür. Jede Tür auf Cravenmoore zierte ein anderes Relief, das Szenen aus bekannten Märchen zeigte: die Gebrüder Grimm, in kunstvollen, rätselhaften Schnitzereien verewigt. In den Augen des Mädchens allerdings waren die Bilder einfach nur gruselig. Sie hatte diesen Raum noch nie betreten; eines von vielen Zimmern im Haus, in die sie noch nie einen Fuß gesetzt hatte. Und sie würde es auch nicht tun, solange es nicht notwendig war.
    Das Fenster auf der anderen Seite der Tür schlug auf und zu. Der kalte Lufthauch der Nacht drang durch die Türritzen und streifte ihre Haut. Hannah warf einen letzten Blick in den langen Korridor hinter ihr. Die Gesichter des Orchesters spähten aus dem Dunkel. Man hörte deutlich das Rauschen des Wassers und den Regen auf den Dächern von Cravenmoore, der sich anhörte wie das Krabbeln tausender kleiner Spinnen. Das Mädchen atmete tief durch, legte die Hand auf den Türknauf und betrat das Zimmer.
    Ein eisiger Windstoß umfing sie, schlug heftig die Tür hinter ihr zu und brachte

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