Der dunkle Wächter
in die Lungen. Sie wollte gerade wieder loslaufen, als sie die Silhouette an die Fassade von Cravenmoore geklammert sah. Ein Gesicht wölbte sich aus der schwarzen Masse hervor, und der Schatten kroch zwischen den Wasserspeiern nach unten wie eine riesige Spinne.
Hannah stürzte sich in das Labyrinth aus Finsternis, das den Wald durchzog. Der Mond schien nun zwischen den Wolken hervor und tauchte den Dunst in blaues Licht. Der Wind entfachte ringsum die wispernden Stimmen tausender Blätter. Die Bäume standen am Wegesrand wie versteinerte Gespenster, die ihr die Arme entgegenstreckten, eine Wand aus bedrohlichen Klauen. Verzweifelt rannte sie dem Licht entgegen, das sie zum Ende dieses gespenstischen Tunnels leitete, eine Tür ins Licht, die sich immer weiter von ihr zu entfernen schien, je verzweifelter sie versuchte, sie zu erreichen.
Ein ohrenbetäubendes Getöse erfüllte den Wald. Der Schatten wälzte sich durch das Unterholz, zerstörte alles, was sich ihm in den Weg stellte, eine tödliche Fräse, die sich eine Schneise zu ihr schlug. Dem Mädchen blieb der Schrei im Halse stecken. Zweige und Gestrüpp hatten Dutzende von Schnitten an ihren Händen und Armen und in ihrem Gesicht hinterlassen. Die Erschöpfung hämmerte in ihrem Kopf und trübte ihre Sinne, flüsterte ihr ein, der Müdigkeit nachzugeben, sich einfach hinzusetzen und abzuwarten… Aber sie musste weiter. Sie musste von hier weg. Noch ein paar Meter, und sie würde die Straße erreichen, die zum Dorf führte. Dort würde sie ein Auto treffen, jemanden, der sie mitnahm und ihr half. Die Rettung war nur ein paar Sekunden entfernt, gleich hinter dem Waldrand.
Die fernen Scheinwerfer eines Wagens, der am Strand des Engländers entlangfuhr, tasteten sich durch die Dunkelheit des Waldes. Hannah richtete sich auf und schrie mit letzter Kraft um Hilfe. Hinter ihr schien ein Wirbelsturm durch den Wald zu fegen und zwischen den Ästen der Bäume aufzusteigen. Hannah sah nach oben zu der dichten Kuppel aus Zweigen, die das Gesicht des Mondes verbargen. Langsam breitete sich der finstere Schatten aus. Hannah entfuhr ein letztes Wimmern. Wie ein Regen aus Teer stürzte sich der Schatten von oben auf sie. Das Mädchen schloss die Augen und dachte an die lächelnde, lebhafte Miene ihrer Mutter.
Dann spürte sie den kalten Atem des Schattens auf ihrem Gesicht.
5. Ein Schloss im Nebel
Ismaels Segelboot tauchte pünktlich aus dem Dunstschleier auf, der die Oberfläche der Bucht liebkoste. Irene und ihre Mutter, die still auf der Veranda saßen und eine Tasse Milchkaffee tranken, wechselten einen Blick.
»Ich muss dir ja nicht sagen…«, begann Simone.
»Nein, musst du nicht«, antwortete Irene.
»Wann haben wir beide uns zum letzten Mal über Männer unterhalten?«, fragte ihre Mutter.
»Als ich sieben wurde und unser Nachbarsjunge Claude mich überredet hat, meinen Rock gegen seine Hose zu tauschen.«
»So ein Ferkel.«
»Er war erst fünf, Mama.«
»Wenn sie mit fünf schon so sind, dann stell sie dir mit fünfzehn vor.«
»Sechzehn.«
Simone seufzte. Sechzehn Jahre, mein Gott. Ihre Tochter hatte vor, mit einem alten Seebären durchzubrennen.
»Dann sprechen wir von einem Erwachsenen.«
»Er ist nur ein gutes Jahr älter als ich. Was bin ich dann?«
»Du bist noch ein Kind.«
Irene lächelte ihrer Mutter nachsichtig zu. Als Feldwebel hatte Simone Sauvelle keine Zukunft.
»Nur die Ruhe, Mama. Ich weiß, was ich tue.«
»Das ist es ja, was mir Angst macht.«
Das Segelboot fuhr in die kleine Bucht ein. Ismael winkte vom Boot aus. Simone musterte den Jungen mit wachsam hochgezogener Augenbraue.
»Warum kommt er nicht rauf und du stellst ihn mir vor?«
»Mama…«
Simone nickte. Sie hatte sowieso nicht daran geglaubt, dass dieser Trick ziehen würde.
»Gibt es etwas, das ich dir mit auf den Weg geben sollte?«, schlug sie, klein beigebend, vor.
Irene gab ihr einen Kuss auf die Wange.
»Wünsch mir einfach einen schönen Tag.«
Ohne eine Antwort abzuwarten, lief Irene zum Anlegeplatz. Simone beobachtete, wie ihre Tochter die Hand dieses Fremden ergriff (der in ihren argwöhnischen Augen nicht mehr viel von einem Jungen hatte) und an Bord seines Segelbootes sprang. Als Irene sich umdrehte, um ihr zuzuwinken, lächelte ihre Mutter gezwungen und winkte zurück. Dann sah sie zu, wie sie im friedlichen, strahlenden Sonnenschein in die Bucht hinaussegelten. Auf dem Geländer der Veranda saß eine Möwe, vielleicht auch sie eine besorgte
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