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Der dunkle Wächter

Der dunkle Wächter

Titel: Der dunkle Wächter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carlos Ruiz Zafón
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sich auf der anderen Seite befand.
    »Los, komm schon«, murmelte Ismael vor sich hin, während er das Schloss bearbeitete.
    Irene sah ihm zu und brachte die innere Stimme zum Schweigen, die ihr zuzuflüstern begann, dass es keine gute Idee war, unbefugt in fremdes Eigentum einzudringen. Schließlich gab das Schloss mit einem leisen Klacken nach. Ein Lächeln huschte über Ismaels Gesicht. Die Tür öffnete sich ein paar Zentimeter.
    »Das hätten wir«, sagte er, während er sie langsam aufstieß.
    »Wir sollten uns beeilen«, bemerkte Irene. »Lazarus wird nicht lange wegbleiben.«
    Ismael trat ein. Irene atmete tief durch und folgte ihm dann. Das Innere war in ein trübes Licht getaucht, in dem ein dichter Staubschleier hing. Der Geruch chemischer Mittel lag in der Luft. Ismael schloss die Tür hinter sich, und die beiden betraten eine Welt voller unergründlicher Schatten. Die Überreste von Lazarus Janns Spielzeugfabrik lagen in ewigen Schlaf versunken.
    »Man sieht gar nichts«, wisperte Irene, während sie den Drang unterdrückte, diesen Ort so schnell wie möglich zu verlassen.
    »Wir müssen warten, bis sich unsere Augen an die Dunkelheit gewöhnt haben. Es ist eine Sache von Sekunden«, erklärte Ismael nicht sehr überzeugt.
    Die Sekunden verstrichen, doch der schwarze Vorhang, der über Lazarus Fabrik lag, lichtete sich nicht. Irene versuchte, einen Weg auszumachen, dem sie folgen konnten, als ihr Blick auf eine große, reglose Gestalt fiel, die ein paar Meter weiter weg stand.
    Vor Angst verkrampfte sich ihr Magen.
    »Ismael, da ist jemand«, sagte das Mädchen, während es den Arm des Jungen umklammerte.
    Ismael spähte in die Dunkelheit. Dort schwebte mit ausgebreiteten Armen eine Gestalt. Die Figur schwang langsam hin und her, wie ein Pendel, langes Haar fiel ihr über die Schultern. Mit zitternden Händen tastete der Junge in seiner Jackentasche und zog eine Streichholzschachtel hervor. Die Figur verharrte reglos, wie eine lebende Statue, bereit, sich auf sie zu stürzen, sobald er das Licht entzündete.
    Ismael riss das Streichholz an, und die aufscheinende Flamme blendete sie für einen kurzen Augenblick. Irene klammerte sich fest an ihn.
    Der Anblick, der sich ihnen Sekunden später bot, ließ ihre Knie weich werden. Eine eisige Kältewelle durchflutete Irene. Vor ihr baumelte im flackernden Licht der Flamme der Körper ihrer Mutter Simone mit ausgebreiteten Armen von der Decke.
    »Mein Gott…«
    Die Figur drehte sich langsam um sich selbst und gab den Blick auf die andere Seite ihres Gesichts frei. Drähte und Zahnräder blitzten im schwachen Licht auf. Das Gesicht war in zwei Hälften geteilt, und erst eine von ihnen war fertiggestellt.
    »Es ist eine Maschine, einfach nur eine Maschine«, versuchte Ismael sie zu beruhigen.
    Irene betrachtete das makabre Ebenbild von Simone. Ihre Gesichtszüge. Die Farbe ihrer Augen, ihrer Haare. Jedes Mal ihrer Haut, jede Linie ihres Gesichts war zu einer ausdruckslosen, schaurigen Maske nachgebildet.
    »Was geht hier vor?«, fragte sie.
    Ismael deutete auf eine Tür am anderen Ende der Werkstatt, die ins Haus zu führen schien.
    »Da entlang«, sagte er und zog Irene von diesem Ort und der unheimlichen, in der Luft baumelnden Figur fort. Das Mädchen, das immer noch unter dem Eindruck dieser Erscheinung stand, folgte ihm verwirrt und verängstigt. Einen Augenblick später verlosch das Streichholz, das Ismael hielt, und um sie herum wurde es wieder dunkel.
    Als sie zu der Tür kamen, die ins Innere von Cravenmoore führte, wuchs die dunkle Masse, die sich zu ihren Füßen ausgebreitet hatte, hinter ihnen in die Höhe wie eine schwarze Blume und kroch über die Wände. Der Schatten wanderte zu den Arbeitstischen der Werkstatt und glitt über das weiße Tuch, das den mechanischen Engel bedeckte, den Lazarus Dorian in der Nacht zuvor gezeigt hatte. Langsam kroch der Schatten unter die Falten des Tuches, und seine wabernde Masse drang durch die Ritzen der Metallkonstruktion.
    Das schwarze Wesen verschwand vollständig im Inneren des Metallkörpers. Ein frostiger Hauch überzog die mechanische Figur und formte ein Spinnennetz aus Eis. Dann öffneten sich die Augen des Engels langsam in der Dunkelheit, zwei Rubine, die unter dem Tuch hervorglühten.
    Die riesenhafte Gestalt richtete sich allmählich auf und breitete ihre Flügel aus. Schwerfällig stellte sie beide Füße auf den Boden. Ihre Klauen krallten sich in die Oberfläche des Holzes und hinterließen tiefe

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