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Der dunkle Wächter

Der dunkle Wächter

Titel: Der dunkle Wächter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carlos Ruiz Zafón
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hat«, sagte der Junge.
    »Was willst du damit sagen?«
    »Ich war im Wald. Es gibt Spuren. Abgeknickte Äste. Es hat ein Kampf stattgefunden. Jemand hat Hannah vom Haus aus verfolgt.«
    »Von Cravenmoore?«
    Ismael nickte erneut.
    »Wir müssen herausfinden, was in der Nacht vor ihrem Verschwinden passiert ist. Vielleicht erklärt das, wer oder was sie im Wald verfolgt hat.«
    »Und wie sollen wir das anstellen? Ich meine, die Polizei…«, warf Irene ein.
    »Ich weiß nur einen Weg.«
    »Cravenmoore«, murmelte sie.
    »Genau. Heute Nacht…«
     
    Die untergehende Sonne brach rotglühend zwischen den Sturmwolken hervor, die am Horizont vorüberjagten. Während sich die Dunkelheit über die Bucht breitete, war eine aufklarende Stelle am Himmel zu sehen, durch die in einem nahezu vollkommenen Kreis das Licht des zunehmenden Mondes fiel. Sein silbriges Leuchten bahnte sich einen Weg in Irenes Zimmer. Das Mädchen sah kurz von Alma Maltisse Tagebuch auf und betrachtete den Himmelskörper, der ihr vom Firmament aus zulächelte. Noch vierundzwanzig Stunden, und seine Scheibe würde vollkommen sein. Der dritte Vollmond des Sommers. Die Nacht der Masken in der Blauen Bucht.
    Doch in diesem Moment hatte der Mond eine andere Bedeutung für sie. In wenigen Minuten würde sie zu ihrem heimlichen Treffen mit Ismael am Waldrand gehen. Die Idee, durch die stockfinstere Nacht zu streifen und sich in die unergründlichen Tiefen von Cravenmoore zu wagen, erschien ihr nun unbesonnen. Oder vielmehr ziemlich dumm. Andererseits fühlte sie sich in diesem Augenblick genauso wenig in der Lage, Ismael zu enttäuschen, wie am Nachmittag, als er von seiner Absicht erzählt hatte, auf Lazarus Janns Anwesen nach Antworten auf Hannahs Tod zu suchen. Da das Mädchen seine Gedanken nicht ordnen konnte, nahm es erneut Alma Maltisse Tagebuch zur Hand und flüchtete sich in seine Seiten.
     
    … Seit drei Tagen habe ich nichts mehr von ihm gehört. Er ist überstürzt um Mitternacht aufgebrochen, überzeugt, dass der Schatten ihm folgen werde, wenn er von mir fortginge. Er wollte mir nicht sagen, wohin er geht, aber ich vermute, dass er auf der Leuchtturminsel Zuflucht gesucht hat. Er hat sich immer an diesen einsamen Ort zurückgezogen, um Frieden zu finden, und ich habe den Eindruck, dass er diesmal dorthin zurückgekehrt ist, wie ein verängstigtes Kind, um sich seinem Alptraum zu stellen. Doch seine Abwesenheit lässt mich an allem zweifeln, was ich bisher geglaubt habe. Der Schatten ist in diesen drei Tagen nicht wiedergekommen. Ich habe mich in meinem Zimmer eingeschlossen, umgeben von Lampen, Kerzen und Öllichtern. Jeder Winkel des Raumes ist erleuchtet. Ich habe kaum geschlafen.
    Während ich mitten in der Nacht diese Zeilen schreibe, kann ich von meinem Fenster aus die Leuchtturminsel im Nebel liegen sehen. Ein Licht leuchtet zwischen den Felsen auf. Ich weiß, das ist er, ganz allein, eingeschlossen in dem Kerker, zu dem er sich verurteilt hat. Ich kann keine Stunde länger hier bleiben. Wenn wir uns diesem Alptraum stellen müssen, dann will ich, dass wir es gemeinsam tun. Und wenn wir bei dem Versuch sterben sollen, dann werden wir auch das gemeinsam tun.
    Es ist mir gleichgültig, ob mein Leben in diesem Irrsinn einen Tag länger oder kürzer dauert. Der Schatten wird uns keine Ruhe lassen. Eine weitere Woche wie diese ertrage ich nicht. Ich habe ein reines Gewissen, und ich habe meinen Frieden mit mir gemacht. Die Angst der ersten Tage ist Müdigkeit und Verzweiflung gewichen.
    Morgen, wenn die Leute im Ort den Maskenball auf dem Dorfplatz feiern, werde ich im Hafen ein Boot nehmen und zu ihm fahren. Die Folgen sind mir egal. Ich bin bereit, sie zu akzeptieren. Es genügt mir, an seiner Seite zu sein und ihm bis zum letzten Augenblick beizustehen.
    Etwas in mir sagt mir, dass es vielleicht doch noch eine Möglichkeit für uns gibt, ein normales, glückliches, friedliches Leben zu führen. Mehr erhoffe ich mir nicht…
     
    Irene wurde von einem winzigen Steinchen, das gegen ihr Fenster flog, aus der Lektüre gerissen. Sie klappte das Buch zu und sah nach draußen. Ismael wartete am Waldrand. Während sie eine dicke Strickjacke überzog, verschwand langsam der Mond hinter den Wolken.
    Irene blieb oben an der Treppe stehen und betrachtete aufmerksam ihre Mutter. Simone war wieder einmal in ihrem Lieblingssessel vor dem großen Fenster eingeschlafen, das auf die Bucht hinausging. Ein Buch ruhte in ihrem Schoß, und die Lesebrille war

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