Zum ersten Mal verliebt
Notizen aus Gien und anderes
Es war an einem sonnigen, angenehm warmen Nachmittag. Susan Baker, die schon seit sechs Uhr morgens auf den Beinen war, ließ sich erschöpft, aber zufrieden im großen Wohnzimmer von Ingleside nieder. Es war jetzt vier Uhr, und sie fand, dass sie sich eine Ruhepause und ein kleines Schwätzchen redlich verdient hatte. Eigentlich war sie mehr als zufrieden: in der Küche hatte heute alles wie am Schnürchen geklappt, und Dr. Jekyll hatte sich nicht in Mr Hyde verwandelt und war ihr deshalb auch nicht auf die Nerven gefallen. Von ihrem Sitzplatz aus konnte Susan die Pfingstrosen sehen, die sie eigenhändig gepflanzt und gepflegt hatte. Sie waren ihr ganzer Stolz. Es gab in ganz Gien St. Mary kein zweites Pfingstrosenbeet, das so schön blühte wie ihres: dunkelrote Pfingstrosen, Pfingstrosen in schimmerndem Rosa und Pfingstrosen so weiß wie Schnee.
Susan trug eine neue schwarze Seidenbluse, die war mindestens genauso vornehm wie alles, was Mrs Marshall Elliott jemals trug. Und sie hatte eine weiße gestärkte Schürze mit aufwändig gehäkeltem Spitzenbesatz an, der mindestens zwölf Zentimeter breit war, vom dazu passenden Spitzeneinsatz ganz zu schweigen. Mit dem königlichen Gefühl einer wohlgekleideten Dame schlug Susan also die Daily Enterprise auf, um sich die Notizen aus Gien vorzunehmen, die, wie sie soeben von Miss Cornelia erfahren hatte, heute besonders ausführlich waren und so ziemlich keinen aus Ingleside ausließen. Auf der Titelseite der Zeitung stand in fetter Überschrift etwas von einem Erzherzog Ferdinand oder so ähnlich, der in Sarajevo - komischer Name - ermordet worden war; aber mit so uninteressanten Nebensächlichkeiten konnte Susan nichts anfangen. Sie interessierte sich nur für das, was um sie herum passierte. Aha, da war sie schon an der richtigen Stelle: Allerlei aus Gien St. Mary. Susan machte es sich gemütlich und fing wissbegierig an zu lesen, und zwar laut, damit sie umso mehr davon hatte.
Währenddessen saßen Mrs Anne Blythe und ihre Besucherin, Miss Cornelia (alias Mrs Marshall Elliot) neben der offenen Wohnzimmertür draußen auf der Veranda und plauderten. Eine kühle, angenehme Brise wehte herein und brachte die verschiedensten Düfte aus dem Garten mit sich. Von der Weinlaube, wo Rilla, Miss Oliver und Walter zusammensaßen, drang das Echo ihres fröhlichen Lachens herüber. Wo auch immer Rilla Blythe sich aufhielt, da ging es fröhlich zu. Im Wohnzimmer lag, zusammengekuschelt auf dem Sofa, ein weiteres Lebewesen, das nicht unerwähnt bleiben darf. Es besaß nämlich einen ganz außergewöhnlichen Charakter. Und es war noch dazu die einzige Kreatur, die Susan auf den Tod nicht ausstehen konnte.
Alle Katzen sind geheimnisvoll, aber Dr.-Jekyll-und-Mr-Hyde - Kurzname Doc - war dreimal so geheimnisvoll. Doc besaß zwei Persönlichkeiten in einer, oder war, daran glaubte Susan felsenfest, vom Teufel besessen. Er hatte in der Tat vom ersten Tag seiner Existenz an etwas Unheimliches an sich.
Vor vier Jahren hatte Rilla Blythe ein allerliebstes kleines Kätzchen besessen, weiß wie Schnee, mit einer vorwitzigen schwarzen Schwanzspitze. Rilla hatte es Jack Frost genannt. Susan konnte Jack Frost nicht leiden, obwohl sie keinen vernünftigen Grund für ihre Abneigung nennen konnte oder wollte.
»Lassen Sie sich’s gesagt sein, liebe Frau Doktor, dieser Kater bringt Unglück«, sagte sie immer wieder mit drohender Stimme.
»Aber wieso glaubst du das?«, wollte Anne (Mrs Blythe) dann wissen.
»Ich glaube das nicht - ich weiß es«, behauptete Susan.
Doch alle anderen auf Ingleside liebten Jack Frost heiß und innig. Er war so reinlich und gepflegt und duldete nicht einen Schmutzfleck auf seinem schönen weißen Fell. Es war so rührend, wie er schnurrte und sich an einen schmiegte. Und er war die Ehrlichkeit in Person.
Doch dann passierte auf Ingleside das Unfassbare: Jack Frost bekam Junge!
Susans Triumph braucht man gar nicht näher zu beschreiben. Hatte sie nicht immer und immer wieder gesagt, dass dieser Kater sich eines Tages als trügerisches und hinterlistiges Wesen entpuppen würde? Das hatten sie jetzt davon!
Rilla behielt eines der Jungen. Es war sehr hübsch und hatte ein merkwürdig glattes, glänzendes Fell, dunkelgelb mit orangen Streifen, und große, seidige, goldfarbene Ohren. Sie nannte es Goldie und kein Name hätte besser zu diesem kleinen vergnügten Wesen passen können. Solange es klein war, gab es nicht die geringsten
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