Der dunkle Wächter
schwarze, dichte Schemen verharrte in der Zimmermitte. »Er beobachtet mich«, flüsterte die Stimme in seinem Inneren. Der Schatten schien in der Dunkelheit näherzukommen, und Dorian stellte fest, dass es nicht der Boden war, der sich bewegte, sondern seine Knie, die beim Anblick dieser gespenstischen Gestalt, die Schritt für Schritt näherkam, vor lauter Angst schlotterten.
Dorian wich einige Schritte zurück, bis er in dem schwachen Lichtfleck stand, der durchs Fenster fiel. Der Schatten hielt an der Schwelle der Dunkelheit inne. Der Junge spürte, wie seine Zähne klapperten, aber er presste die Kiefer fest aufeinander und unterdrückte seinen Drang, die Augen zu schließen. Plötzlich schien jemand etwas zu sagen. Es dauerte einige Sekunden, bis er begriff, dass er selbst es war. Mit fester Stimme und ohne eine Spur von Angst.
»Verschwinde«, sagte er in die Dunkelheit hinein. »Verschwinde, habe ich gesagt.«
Ein furchterregendes Geräusch war zu hören, ein Geräusch, das wie das ferne Echo eines grausamen, bösartigen Lachens klang. Im gleichen Augenblick tauchten die Gesichtszüge des Schattens aus der Dunkelheit auf wie ein Spiegelbild auf tiefschwarzem Wasser. Düster. Dämonisch.
»Verschwinde«, hörte Dorian sich selbst sagen.
Die schwarze Nebelgestalt löste sich vor seinen Augen auf, und der Schatten bewegte sich rasend schnell wie eine Wolke aus glühendem Gas durch das Zimmer zur Tür. Dort verwandelte sich das Gebilde in eine schwebende Spirale, die von einer unsichtbaren Kraft durch das Schlüsselloch gesogen wurde wie ein Tornado aus dunkelster Schwärze.
Erst jetzt flammte die Glühbirne wieder auf und tauchte das Zimmer in warmes Licht. Der Junge schrie beinahe vor Schreck. Sein Blick schoss in jeden Winkel des Zimmers, doch nirgendwo war eine Spur der Erscheinung zu entdecken, die er Sekunden zuvor zu sehen geglaubt hatte.
Dorian atmete tief durch und ging zur Tür. Als er die Hand auf den Türgriff legte, war das Metall eiskalt. Entschlossen öffnete er die Tür und spähte in den dunklen Flur. Nichts.
Leise schloss er sie wieder und trat erneut ans Fenster. Unten auf der Veranda verabschiedete sich Lazarus von seiner Mutter. Bevor er sich auf den Weg machte, beugte sich der Spielzeugfabrikant hinunter und küsste sie auf die Wange. Es war ein kurzer Kuss, beinahe hingehaucht. Dorian spürte, wie sich sein Magen zur Größe einer Erbse zusammenkrampfte. In diesem Moment blickte der Mann aus der Dunkelheit zu ihm auf und lächelte ihm zu. Das Blut gefror ihm in den Adern.
Im Mondlicht ging der Spielzeugfabrikant langsam auf den Wald zu, doch sosehr Dorian sich auch bemühte, er konnte nicht sehen, wohin Lazarus’ Schatten fiel. Kurz darauf verschluckte ihn die Dunkelheit.
Nachdem sie einem langen Korridor gefolgt waren, der die Spielzeugfabrik mit dem Wohnhaus verband, betraten Ismael und Irene das Innerste von Cravenmoore. Unter dem Mantel der Nacht wirkte Lazarus’ Anwesen wie ein Palast der Finsternis, dessen von unzähligen mechanischen Geschöpfen bevölkerte Galerien in alle Himmelsrichtungen in die Dunkelheit abzweigten. Die bunte Laterne, die über der spindelförmigen Treppe in der Mitte des Hauses hing, versprühte einen Regen aus roten, goldenen und blauen Lichtreflexen, die im Inneren von Cravenmoore zurückstrahlten wie aus einem Kaleidoskop entwichene Glasperlen.
Irene musste bei den erstarrten Figuren der Automaten und den ausdruckslosen Gesichtern entlang der Wände an einen unheimlichen Zauber denken, der die Seelen früherer Hausbewohner gefangen hielt. Ismael war da nüchterner und sah in ihnen lediglich den verworrenen, unergründlichen Geist ihres Schöpfers. Doch das beruhigte ihn keinesfalls; im Gegenteil, je weiter sie in Lazarus Janns Privatgemächer vordrangen, desto intensiver war die unsichtbare Gegenwart des Spielzeugfabrikanten zu spüren. Seine Persönlichkeit steckte in jedem kleinen Detail dieses barocken Baus, von den mit Fresken bemalten Decken, die Szenen aus bekannten Märchen zeigten, bis zu dem Boden, über den sie gingen, ein nicht enden wollendes Schachbrett, dessen hypnotisches Muster dem Auge in einem raffinierten optischen Effekt endlose Tiefe vortäuschte. Durch Cravenmoore zu streifen war, als wandelte man durch einen atemberaubenden und zugleich beängstigenden Traum.
Ismael blieb am Fuß der Treppe stehen und betrachtete, wie sie sich in die Höhe wand. Unterdessen bemerkte Irene, wie eines von Lazarus’ mechanischen
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