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Der dunkle Wächter

Der dunkle Wächter

Titel: Der dunkle Wächter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carlos Ruiz Zafón
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ihr von der Nase gerutscht. Aus dem Radio in der Zimmerecke, dessen Holzgehäuse mit verspielten Jugendstilornamenten verziert war, drangen leise die unheimlichen Auftaktakkorde einer Kriminalgeschichte. Diese Deckung nutzend, schlich Irene auf Zehenspitzen an Simone vorbei und huschte in die Küche, die zum Hof des Hauses hinausführte. Die ganze Aktion dauerte kaum fünfzehn Sekunden.
    Ismael erwartete sie draußen. Er trug eine schlichte Lederjacke, Arbeitshose und Stiefel, die aussahen, als wäre jemand in ihnen ein halbes Dutzend Mal nach Konstantinopel und zurück gegangen. Die nächtliche Brise trieb kalten Nebel von der Bucht heran, der sich wie eine Girlande aus tanzenden Schatten über den Wald legte.
    Irene knöpfte ihre Jacke bis obenhin zu und nickte Ismael, der sie aufmerksam ansah, stumm zu. Wortlos schlugen die beiden den Pfad zwischen den Bäumen ein. Verborgene Geräusche bevölkerten die Schatten des Waldes. Das Wispern der Blätter im Wind übertönte das Rauschen des Meeres, das sich an den Klippen brach. Irene ging hinter Ismael her durch den dichten Wald. Das Gesicht des Mondes ließ sich flüchtig zwischen den Wolken blicken, die über die Bucht dahinjagten und den Wald in ein gespenstisch flackerndes Helldunkel tauchten. Auf halber Strecke nahm Irene Ismaels Hand und ließ sie nicht mehr los, bis die Umrisse von Cravenmoore vor ihnen auftauchten.
    Auf ein Zeichen des Jungen hin blieben sie hinter einem toten Baum stehen, in den einmal ein Blitz eingeschlagen hatte. Für Sekunden zerriss der Mond den samtenen Wolkenvorhang, und ein Lichtfleck huschte über die Fassade von Cravenmoore. Im Schlagschatten wurde jedes einzelne Relief und jede Kontur sichtbar, und es entstand das faszinierende Bild einer wundersamen, in der Tiefe eines verwunschenen Waldes verlorenen Kathedrale. Dann versank die flüchtige Vision in einem See aus Dunkelheit, und von goldenem Licht umrahmt, zeichnete sich die Silhouette von Lazarus Jann vor dem Hauptportal ab. Der Spielzeugfabrikant schloss die Tür hinter sich, ging langsam die Treppenstufen hinunter und schlug den Weg zum Waldrand ein.
    »Das ist Lazarus. Er geht jede Nacht im Wald spazieren«, wisperte Irene.
    Ismael nickte schweigend und hielt das Mädchen zurück, die Augen auf die Gestalt des Spielzeugfabrikanten gerichtet, der auf den Wald zukam, genau in ihre Richtung. Irene warf Ismael einen fragenden Blick zu. Der Junge seufzte und sah sich nervös um. Lazarus Schritte wurden hörbar. Ismael packte Irene am Arm und zog sie ins Innere des toten Baumstamms.
    »Da lang. Schnell!«, flüsterte er.
    Im Innern des Baumstamms roch es feucht und modrig. Helligkeit fiel durch kleine Öffnungen im toten Holz und bildete eine unwirkliche Stufenleiter aus Licht, die in dem hohlen Baumstamm nach oben führte. Irene hatte ein flaues Gefühl im Magen. Zwei Meter über ihnen bemerkte sie eine Reihe winziger glänzender Punkte. Augen. Sie war kurz davor zu schreien. Ismaels Hand kam ihr zuvor. Der Junge presste sie fest an sich, um ihren Schrei zu ersticken.
    »Das sind nur Fledermäuse! Sei still!«, flüsterte er ihr zu, während sich Lazarus’ Schritte an dem Baumstamm vorbei in Richtung Wald entfernten.
    In weiser Voraussicht lockerte Ismael den Knebel vor Irenes Mund erst, als die Schritte des Herrn von Cravenmoore sich im Wald verloren. Die unsichtbaren Schwingen der Fledermäuse flatterten in der Dunkelheit. Irene spürte den Lufthauch auf ihrem Gesicht und nahm den beißenden Geruch der Tiere wahr.
    »Ich dachte, du hast keine Angst vor Fledermäusen«, sagte Ismael. »Los, weiter.«
    Irene folgte ihm durch den Park von Cravenmoore zum rückwärtigen Trakt des Hauses. Bei jedem Schritt sagte sich das Mädchen, dass niemand zu Hause war und das Gefühl, beobachtet zu werden, nur eine Sinnestäuschung sein konnte.
    Sie erreichten den Flügel, der zu Lazarus’ ehemaliger Spielzeugfabrik führte, und blieben vor einer Tür stehen, die zu einer Werkstatt oder einer Montagehalle zu gehören schien. Ismael zog ein Messer hervor und klappte es auseinander. Die Klinge blitzte in der Dunkelheit auf. Der Junge führte die Messerspitze in das Türschloss ein und ertastete vorsichtig den Schließmechanismus.
    »Geh mal zur Seite. Ich brauche mehr Licht.«
    Irene trat ein paar Schritte zurück und spähte in die Dunkelheit, die im Inneren der Spielzeugfabrik herrschte. Die Scheiben waren vom jahrelangen Leerstand wie beschlagen, und es war nahezu unmöglich zu erkennen, was

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