Der Ego-Tunnel
Form der Darstellung von Information ist. Darum ist Bewusstsein wie ein Tunnel: Was wir sehen und hören oder ertasten und erfühlen, was wir riechen und schmecken, ist nur ein kleiner Bruchteil dessen, was tatsächlich in der Außenwelt existiert. Unser bewusstes Wirklichkeitsmodell ist eine niedrigdimensionale Projektion der unvorstellbar reicheren und gehaltvolleren physikalischen Wirklichkeit, die uns umgibt und uns trägt. Die Leistungsfähigkeit unserer Sinnesorgane ist begrenzt: Sie entstanden im Lauf der Evolution und verbesserten die Überlebenschancen der Individuen, aber sie wurden nicht mit dem Ziel entwickelt, die enorme Fülle und den Reichtum der Wirklichkeit in all ihren unauslotbaren Tiefen wahrheitsgetreu abzubilden. Aus diesem Grund ist der kontinuierlich ablaufende Vorgang des bewussten Erlebens weniger ein Abbild der Wirklichkeit als vielmehr ein Tunnel durch die Wirklichkeit.
Immer wenn unser Gehirn erfolgreich seine geniale Strategie der Erschaffung eines einheitlichen und dynamischen inneren Porträts der Wirklichkeit verfolgt, werden wir bewusst. Zuerst erzeugt unser Gehirn eine Simulation der Welt, die so perfekt ist, dass wir sie nicht als ein Bild in unserem eigenen Geist erkennen können. Dann generiert es ein inneres Bild von uns selbst als einer Ganzheit. Dieses Bild umfasst nicht nur unseren Körper und unsere mentalen Zustände, sondern auch unsere Beziehung zur Vergangenheit und zur Zukunftsowie zu anderen bewussten Wesen. Dieses innere Bild der Personals-Ganzer ist das phänomenale Ego, das »Ich« oder »Selbst«, so wie es im bewussten Erleben erscheint. Daher verwende ich die Begriffe »phänomenales Ego« und »phänomenales Selbst« synonym. Das phänomenale Ego ist kein geheimnisvolles Ding und auch kein kleines Männchen im Kopf, sondern der Inhalt eines inneren Bildes – nämlich das bewusste Selbstmodell, das PSM. Durch die Einbettung des Selbstmodells in das Weltmodell wird ein Zentrum geschaffen. Dieses Zentrum ist das, was wir als unser Selbst erleben, das Ego. Es ist der Ursprung dessen, was Philosophen oft die »Erste-Person-Perspektive« nennen. Wir stehen also nicht in direktem Kontakt mit der äußeren Wirklichkeit oder mit uns selbst, aber trotzdem haben wir eine Innenperspektive. Wir wissen, wie man das Wort »ich« benutzt. Wir leben unser bewusstes Leben im Ego-Tunnel.
In gewöhnlichen Bewusstseinszuständen gibt es immer jemanden, der das Erlebnis hat – jemanden, der sich bewusst als auf die Welt gerichtet erlebt, und zwar als ein Selbst im Akt der Aufmerksamkeit, im Akt des Wissens, Begehrens, Wollens oder auch als ein Selbst im Moment des Handelns. Dafür gibt es hauptsächlich zwei Gründe. Erstens: Wir besitzen ein integriertes inneres Bild von uns, das fest in unseren Gefühlen und körperlichen Empfindungen verankert ist, denn die von unserem Gehirn erzeugte Weltsimulation schließt das Erleben eines eigenen Standpunkts ein. Zweitens: Wir können unsere Selbstmodelle nicht als Modelle erleben und sie introspektiv als solche erkennen, denn das Selbstmodell ist – wie Philosophen sagen würden – größtenteils »transparent«. 3 Transparenz bedeutet hier ganz einfach, dass wir uns des Mediums, durch das uns Informationen erreichen, nicht bewusst sind. Es ist sozusagen durchsichtig. Wir sehen nicht das Fenster, sondern nur den Vogel, der vorbeifliegt. Wir sehen nicht die Neuronen, die in unserem Gehirn vor sich hin feuern, sondern nur das, was sie für uns repräsentieren. Ein im Gehirn aktives, bewusstes Weltmodell ist genau dann transparent, wenn das System keine Möglichkeit hat, herauszufinden, dass es ein Modell ist – als Gesamtpersonen schauen wir sozusagen direkt durch es hindurch auf die Welt. Die zentrale These dieses Buchs – und derihm zugrunde liegenden Theorie, der Selbstmodell-Theorie der Subjektivität 4 – lautet, dass das robuste bewusste Erleben, ein Selbst zu sein, dadurch verursacht wird, dass das PSM in unserem Gehirn fast vollständig transparent ist.
Das Ego ist, wie wir bereits festgestellt haben, lediglich der Inhalt unseres PSM zu einem bestimmten Zeitpunkt, in genau diesem Augenblick (unsere eigenen körperlichen Empfindungen, unser emotionaler Zustand, unsere Wahrnehmungen, Erinnerungen, Willensakte, Gedanken). Aber es kann nur deshalb überhaupt zum Ego werden, weil wir konstitutionell unfähig sind, erlebnismäßig zu erkennen, dass all dies lediglich der Inhalt einer Simulation in unserem Gehirn ist. Es ist nicht
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