0334 - Der Hexenspiegel
»Nein!« schrie der junge Petersburger. »Nein, niemals… dich soll der Teufel holen, verdammte Hexe!« Er griff nach dem Dolch in der silberbeschlagenen Scheide, riß ihn hoch. Nadija Perkowa, die ihm vorgegaukelt hatte, ein hübsches junges Mädchen zu sein, lachte schrill.
»Damit kannst du mich nicht verletzen… und nun bekomme ich dich… deine Seele wird zur Hölle fahren, damit ich deinen Körper übernehmen kann…«
»Du, eine Frau?« keuchte er.
»Was spielt es für eine Rolle? Vielleicht werde ich dreißig, vierzig Jahre ein Mann sein, dann wieder eine Frau… oder ein Tier…«
Er umklammerte den Elfenbeingriff des Dolches, starrte die Hexe an.
Es fiel ihm immer noch schwer zu glauben, was er gesehen hatte. Diese unglaubliche Verwandlung… Sie bewegte die knochigen, dürren Spinnenfinger.
Ihre rissigen, dünnen Lippen begannen Zauberworte zu murmeln.
Stana sah, wie sich die Flammen der Kerzen ihm entgegenneigten und wie Schatten über die Wände krochen, auf ihn zu. Licht und Dunkelheit konzentrierten sich auf ihn, ohne sich gegenseitig auszulöschen. Er fühlte, wie sich eine eigenartige Lähmung über ihn legte. Eine Lähmung, die den Geist betraf. Sein Denken verlangsamte sich…
Etwas Kaltes kam aus dem Nichts, und als es ihn berührte, begann seine Seele zu brennen…
»Nein«, keuchte er entsetzt. »Nein… nicht meine Seele…«
Er zwang sich, den Dolch zu benutzen. Er nahm alle Kraft zusammen, derer er fähig war. Die Klinge blitzte, zog einen raschen Schnitt über seinen Unterarm, als er sich mit ersterbender geistiger Kraft an das erinnerte, was einen Zauberer oder eine Hexe zu töten vermochte. Und dann wirbelte er den Dolch, an dem sein eigenes Blut haftete, durch die Luft, genau in die Brust der uralten Hexe, die keine Gelegenheit mehr bekam, Erschrecken zu zeigen.
Wie vom Blitz gefällt, brach sie zusammen.
Der Zauber erlosch. Der Bann wich von Stana Ilonkin. Der junge Petersburger wirbelte herum, stürmte aus dem Raum des Grauens und verließ das Haus. Draußen stand sein Pferd, der Sattel lag im Schuppen.
Stana nahm sich nicht die Zeit, den Sattel aufzulegen. Er sprang auf den blanken Pferderücken und jagte davon, über den Zaun hinweg, nur fort von hier.
Er sah nicht den Schatten, der aus den Nachtwolken herabfuhr und durch den Kaminschlot in das kleine Haus fuhr. Er sah nicht die Schwärze, die sich über alles legte mit einer bedrückenden Aura, die jedes Tier verstummen und sich verkriechen ließ. Denn das Böse selbst war gekommen…
Erst als der Tag anbrach, kehrte Stana Ilonkin zurück. Er war müde, aber das Licht der Morgensonne gab ihm Kraft. Er ging in den Schuppen, holte den Sattel heraus und legte ihn dem Pferd auf, dann bekreuzigte er sich, nahm allen Mut zusammen und drang wieder in das Haus ein.
Es wirkte kalt, abweisend, tot. Stana fand das Zimmer, in dem aus dem hübschen jungen Mädchen die uralte, verdorrte Hexe geworden war, die ihn bedrohte und seine Seele dem Teufel schenken wollte.
Aber da lag nur noch der Dolch mit dem Elfenbeingriff, und ein wenig verkrustetes Blut daran. Stanas Blut, dessen Unterarmwunde nur noch schmerzte, wenn er die Muskeln spannte. Hexenblut befand sich keines am Dolch. Er nahm die Waffe wieder an sich. Sie lag in einem kleinen Staubhäufchen. Das war alles, was noch an die Hexe Nadija Perkowa erinnerte. Die Kerzen waren niedergebrannt.
Dennoch, obwohl Nadija tot war, glaubte Stana, von irgendwoher beobachtet zu werden. Der Hauch des Bösen schwebte immer noch im Haus. Aber da war niemand, der Stana beobachten konnte. Da war nur sein eigenes Abbild in dem großen, goldumrandeten Spiegel.
Stana Ilonkin floh aus dem Haus und kehrte nimmermehr zurück.
***
Nadija Perkowa war noch nicht tot gewesen, als Stana in der Nacht das Haus verließ. Der Dolch hatte ihren Unverwundbarkeits-Zauber zwar durchbrochen, sie aber nicht tödlich getroffen. Mit ihrer Hexenkunst hätte sie sich noch zu retten vermocht. Sie hätte die Wunde schließen können.
Aber immerhin war sie schwer angeschlagen, und sie konnte Stana Ilonkin nicht halten. Er entzog sich ihrem lähmenden Bann und entwich.
Nadija Perkowa war zornig und verzweifelt. Sie brauchte einen neuen Körper! Der alte hielt nicht mehr lange vor, jetzt, nach der Dolchverletzung, erst recht nicht. Er verfiel von Woche zu Woche mehr. Sie mußte einen neuen Körper übernehmen, um weiterleben zu können, mußte die andere Seele verdrängen und selbst hineinschlüpfen in die
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