Der einsame Baum - Covenant 05
Schwärze in ihr nicht erst geschaffen; von ihm war ihr nur ein Einblick in ihre Bedeutung aufgezwungen worden. Das Vertrautsein mit diesem Zustand machte ihn jedoch keineswegs erträglicher.
Als man dann zum Essen rief, widersetzte sie sich ihrer niedergedrückten Stimmung mit aller Entschiedenheit, um sich nicht auszuschließen. Covenant zögerte nicht im geringsten; und sie hegte die Absicht, ihm – falls nötig – bis an die Grenzen der Erde zu folgen, um die Art von Mut zu lernen, die ihn dazu befähigte, sich unablässig seinem Schicksal entgegenzustemmen. Unter der Oberfläche seines Daseins schlummerte die Lepra, und Lord Fouls Gift wartete praktisch nur auf eine Gelegenheit, um das angestrebte Unheil anrichten zu können. Aber trotz allem wirkte er der Bürde gewachsen, sogar mehr als das; er kannte diese eigenartige Furcht nicht, durch die sie angesichts von Joans Besessenheit, der gräßlichen Verunstaltung Marids, der Greulichkeit des Wütrichs in Gibbons Gestalt regelrecht gelähmt gewesen war. Und genau aus diesem Grund war sie fest dazu entschlossen, ihm zu folgen, bis sie für ihre Probleme eine ähnliche Lösung wie er gefunden hatte. Sie eilte an seine Seite und suchte mit ihm das Wohlspeishaus auf.
Doch während die Abenddämmerung herabsank, nahm ihr Unbehagen weiter zu. Als die Sonne unterzugehen begann, fühlte sich Linden, als werde sie von irgendeiner Gefahr umlauert. Im Speisesaal war sie von vielen Riesen umgeben, deren gewaltiger Appetit von ihrer Vitalität zeugte; sie selbst aber konnte kaum einen Bissen Nahrung durch die kloßige Enge ihrer Kehle zwängen, die die Niedergedrücktheit ihr verursachte, obwohl sie seit dem Morgen nichts gegessen hatte. Dampfende Eintöpfe, Honigkuchen, Trockenobst: selbst solche Dinge wirkten aufgrund ihrer Trübsinnigkeit abstoßend auf sie.
Nach dem Abendessen ordnete Blankehans an, die Segel für die Nacht zu reffen; und damit brach die Zeit zum Geschichtenerzählen an. Die Riesen lechzten richtiggehend nach Geschichten; sie versammelten sich auf dem Achterdeck und in den Wanten des Besanmasts, so daß die Erste und Covenant vom Achterkastell aus zu ihnen sprechen konnten. Die Liebe zu Geschichten, die in ihnen stak, war offenkundig; sie machte sie irgendwie kindlich, verlieh ihnen jedoch gleichzeitig eine einzigartige, leidenschaftliche Form von Tapferkeit. Und Covenant begab sich nach achtern, als wären derlei Ansprüche der Riesen ebenfalls etwas, mit dem er sich mittlerweile zurechtfand. Linden dagegen war am Ende ihres Durchhaltevermögens. Die Sterne über den Masten wirkten in ihrer immensen Vereinzelung trostlos. Die Geräusche des Schiffs – das Knarren der Taue, das unsichere Flattern des Segeltuchs, wenn der Wind umschlug, das Aufbäumen der Wellen, durch die die Dromond auf ihrem Kurs pflügte – klangen wie Vorzeichen des Zorns oder Kummers. Und Linden hatte schon zu viele Geschichten gehört – über die Erschaffung der Erde, Kevin Landschmeißers Verzweiflung, von Covenants einstigem Sieg. Sie war innerlich noch nicht bereit für weitere Geschichten. Statt dessen zwang sie sich dazu, in ihre Kabine zurückzukehren; in die Dunkelheit hinabzusteigen, statt weiterhin zu versuchen, sie zu meiden.
Sie stellte fest, daß in ihrer Abwesenheit die vorherigen, zu großen Möbel durch Stühle und einen Tisch ersetzt worden waren, die ihr größenmäßig besser entsprachen; außerdem war nun eine Trittleiter vorhanden, um ihr den Gebrauch der Hängematte zu erleichtern. Doch nicht einmal diese Beweise fürsorglicher Gastfreundschaft konnten an Lindens innerlicher Verfassung etwas ändern. Unvermindert sickerte ihr aus dem Stein der Dromond, so hatte es den Anschein, Trübsal ins Gemüt. Auch als sie die Luke aufriß, den Wind und die Geräusche der See, die unterm Schiff einherrollte, eindringen ließ, blieb die Beeinträchtigung nahezu bösartig hartnäckig bestehen. Als sie den Mut aufbrachte, ihre Laternen zu löschen, konzentrierte sich die Finsternis um so zudringlicher auf Lindens Innenleben, deutete alle Arten von Gehässigkeiten an.
Ich werde verrückt. Trotz seiner besonderen Beschaffenheit begann der Granit rund um Linden auf sie immer mehr wie die Mauern Schwelgensteins zu wirken, gleichgültig und unnachgiebig. Erinnerungen an ihre Eltern nagten in den Randzonen ihres Bewußtseins. Mord begangen. Werde verrückt. Das Blut an ihren Händen war ihr ein so ständiger Begleiter wie für Covenant das Blut, das er vergossen
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