Der Eiserne König
vergessen.
Einen Atemzug später fiel er wie ein Stein vom Himmel und schlug die Maus. Sie hatte keine Chance.
Die Räuber hatten den Waldrand fast erreicht, als Hans einen Schemen zwischen den Bäumen bemerkte. »Da ist jemand!«, rief er.
»Sicher ein Reh«, sagte Grimm, ohne anzuhalten.
»Auf zwei Beinen?«, fragte Hans.
Grimm drehte sich um. »Wie man hört, werden Grünschnäbel und Gören gelegentlich in Rehe verwandelt«, schnauzte er. »Also pass auf.«
Die anderen Räuber folgten ihm lachend ins Freie. Vor ihnen dehnten sich die Getreidefelder Flutwiddes. Sie nahmen den Weg, auf dem die Maus an der Ähre geknabbert hatte.
Nach einer halben Meile sah Hans die Gestalt ein zweites Mal – sie huschte ganz in der Nähe in ein Gehölz, das mitten in einem Feld auf einem Hügel stand.
»Da ist sie wieder«, sagte er und zeigte auf die Bäume.
Grimm glotzte ihn an. »Wenn du dich irrst, schlage ich dich windelweich«, knurrte er. »Los, seht nach.« Er winkte zwei Männern, die mit blankem Schwert durch das Getreide zum Gehölz schlichen.
»Vielleicht ein Späher der Gografen«, meinte ein Räuber.
»Du weißt doch, dass die Feste der Gografen seit dem letzten Vollmond bis zu den Zinnen von Dornen umrankt ist«, sagte ein anderer. »Und dass alle, die sich darin aufhalten, wie Tote schlafen.«
»Das muss ein Zauber sein.«
»Natürlich. Aber wessen Zauber?«
»Egal«, erwiderte ein älterer Räuber. »Für uns sind es goldene Zeiten, denn nicht einmal die Gografen kommen uns in die Quere.«
Da ertönte ein Ruf: »Wir haben sie!«
Die Räuber eilten zum Gehölz. Sie staunten nicht schlecht, als sie sahen, dass es sich um ein Mädchen handelte.
»Ja, wen haben wir denn da?«, fragte Grimm. »Willst du uns als Waschweib oder Köchin dienen, Kleine?«
Die Männer kicherten. Nur Hans schwieg, denn das Mädchen war noch jünger als er. Ihr Haar war honigfarben, ihre Augen waren frühlingsgrün, und sie hatte viele Sommersprossen. Da er wusste, dass seine Kumpane nicht lange fackelten, trat er nervös von einem Fuß auf den anderen.
»So, wie sie aussieht, kann sie bestimmt nicht kochen«, sagte einer.
»Und auch nicht waschen«, sagte ein zweiter.
»Vielleicht hat sie ja andere Begabungen«, rief ein dritter.
Grimm griff in die Ledertasche, die am Gürtel des Mädchens hing. »Strickzeug«, sagte er spöttisch. »Wollhemden.«
Die Räuber lachten wieder. »Sie kann also stricken«, rief ein vierter. »Gut so, denn der Winter ist nur noch einen Herbst entfernt.«
»Wie heißt du, Kleine?«, fragte Grimm.
Das Mädchen schwieg.
»Nenn uns deinen Namen«, wiederholte Grimm, dessen Blut leicht in Wallung geriet.
Das Mädchen sah die Räuber der Reihe nach an und ließ den Blick aus ihren grünen Augen dann auf Hans verweilen. Sie schien zu glauben, dass Welt und Menschen gut waren und dass man ihr nichts tun würde. Ein Irrtum, wie Hans wusste.
Da landeten zwei Vögel auf ihren Schultern, ein Sperling auf der rechten, ein Zeisig auf der linken.
»Lasst sie laufen«, bat Hans.
»Ich will wissen, wie sie heißt!«, brüllte Grimm. »Ich will wissen, was sie hier zu suchen hat, wer ihre verfluchte Mutter ist und warum ihr räudiger Vater ihr nie das Fell gegerbt hat. Denn genau das werde ich tun, wenn sie nicht gleich den Mund aufmacht.«
Das Pappellaub raschelte im Wind. Es schien eine Warnung zu flüstern.
Das Mädchen schwieg immer noch.
»Wie du willst, Kleine«, zischte Grimm.
Zwei Männer banden das Mädchen an eine Pappel und rissen ihr das Kleid vom Rücken.
»Klopft sie weich«, befahl Grimm. »Urs?«
Urs, ein gehorsamer Hüne, zog die Peitsche aus dem Gürtel.
Da rief ein Räuber: »Was ist das?« Er zeigte auf den Rücken des Mädchens, der von den Schultern bis zu den Hüften mit einem rätselhaft verschlungenen Muster bedeckt war.
»Sieht aus wie eine Landkarte«, sagte ein zweiter Räuber.
»Oder wie ein Plan zu einem verborgenen Hort«, flüsterte ein dritter.
»Ein Schatzplan auf lebendiger Haut!«, keuchte ein vierter.
»Ein Schatzplan?«, höhnte Grimm. »Du kannst ihr später gern die Haut abziehen und damit auf die Suche gehen, aber erst bekommt sie Hiebe.«
Hans entfernte sich. Er wollte nicht dabei sein, wenn man das Mädchen schlug. Sie erinnerte ihn an seine Schwester Grete, die er seit vielen Jahren nicht mehr gesehen hatte; er wusste nicht einmal, ob sie noch lebte. Ihre Kindheit war hart und entbehrungsreich gewesen, und ihre bettelarmen Eltern hatten
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