Der elektrische Kuss - Roman
gesprochen.
»Sie sind es der Wissenschaft schuldig«, sagte Franklin mit gespielt pathetischer Stimme, als er am Tag nach dem ersten Nachtfrost noch einmal auf den Hof ritt. Dass ihm das nicht bekam, sah man ihm an. Seine Schulter schmerze vom Wind, sagte er. Seine Hände seien taub. Wolle sie ihn noch umbringen? Charlotte lachte auf und schlug ihm neckisch auf die rechte Hand. In normalem Ton fügte er hinzu:
»Oder tun Sie es wenigstens für Amerika.«
»Wie meinen Sie das?«
»Weil Amerika mich braucht.«
»Wirklich?«
»Ein Winter ohne Sie, ohne unseren Gedankenaustausch würde mich trostlos und lasch machen. Ich würde vielleicht alles hinwerfen und mich nicht mehr anstrengen, dem Gouverneur und dem König mehr Rechte für diese Kolonie abzutrotzen. Können Sie das verantworten? Ich bitte Sie, schließlich sind Sie jetzt auch Amerikanerin. Wenn Sie nicht mitkommen, ertrage ich die Langweiler und Erbsenzähler im Abgeordnetenhaus nicht mehr.«
Und auch nicht meine Frau, dachte Franklin im Stillen.
»Aber …«
»Kein Aber, Charlotte. Ich bin kein armer Mann, ein Haus für Sie und die Kleine, da Sie mein Gast sind, wäre selbstverständlich. Wo es auch die nötigen Bedingungen für unsere elektrischen Experimente gäbe. Ach, wissen Sie, Amerika, das Amerika, das ich meine, muss neue moralische Maßstäbe setzen. Der Fortschritt, glauben Sie mir, wird von hier kommen. Die Alte Welt wird noch staunen.«
Also packte Charlotte wieder ihre Lockenscheren, seidenen Unterröcke, fünf noch ungeöffnete Rumflaschen, Schminkutensilien und Bücher zusammen, außerdem Rebeccas Häubchen, Hemdchen, Windeln, Decken, Kittel und das erste Paar Schuhe, das Johann kürzlich aus dünnem Leder für sie genäht hatte. Die Schmuckstücke, die noch in den Säumen steckten, würden, wenn sie erst einmal in Philadelphia zu Geld gemacht waren, noch eine Weile reichen. Charlotte überschlug die Summe vage im Kopf und beschloss, sich vorerst keine Sorgen zu machen. Auch wenn die Morgen schon neblig und frisch waren, spannte sich ab Mittag der Himmel wieder alles versprechend blau.
Es war gut, dass Johann beim Abschied ununterbrochen redete. Davon, dass Charlotte in Philadelphia neuen amischen Ankömmlingen aus der Pfalz Ratschläge geben könnte, wo sie siedeln sollten. Vielleicht kämen dann mehr an den Cocalico, und eine eigene Gemeinde würde hier entstehen, mit einem Ältesten, und sie bräuchten am Sonntag nicht mehr so weit unterwegs sein, um zum Gottesdienst zu kommen. Ach ja, und könnte Charlotte bitte in Erfahrung bringen, ob der Gouverneur wieder etwas für erlegte Eichhörnchen zahlte? Und wenn ja, wie viel? Eine Umarmung, ein Händedruck, und Samuel verzog sich in den Stall. Sarahs Gesicht verlor seinen Butterschimmer und wurde so fahl, dass die Sommersprossen hart wie Kupfer wirkten. Sie presste die Lippen aufeinander und drückte Rebecca, die nichts verstand und lachte, in ihren Schoß. Charlottes Haar befand sich in Auflösung. Aber erst als sie unter der Plane des Wagens saß, der sie zusammen mit einer Ladung frisch gebundener Bücher von Ephrata über Lancaster, Strasburg und eine Siedlung namens Gap nach Philadelphia bringen sollte, weinte sie.
Der erste Teil der Strecke war eine Tortur. Voller Löcher und Steine, dann wieder schmierig ausgewaschen und abschüssig. Die Speichen unter ihr knarzten, und Charlotte wurde durchgeschüttelt wie im Sturm auf der »Good Intent«. Sie war froh darüber. Immer wieder auf der Bank sich auszubalancieren, half ihr, nicht völlig die Beherrschung zu verlieren. Rebecca, warm in Decken eingewickelt, schlief in ihren Armen. Charlotte kam es vor, dass sie sich an diesem Bündel festhielt. Das Rumpeln der Räder ließ Bild über Bild auf sie einstürzen. Die Mutter, die mit nichts als einem kirschroten Mantel auf und davon war. Der Vater hatte daraufhin einen Monat sein Bett nicht mehr verlassen. Das Kirschrot des Mantels würde sie nie vergessen, wie eine böse herausgestreckte Zunge hatte ein langer Zipfel davon aus der Kutsche, die der Fürst geschickt hatte, herausgehangen. Dann lag sie plötzlich fiebernd und übel riechend in dem Bett ihrer Kindheit. War ihr Vater tot? Warum schaute er nie nach ihr? Der Kutscher drehte sich ein paar Mal um und wunderte sich, dass eine Frau in so einem schönen Kleid so hemmungslos weinte.
Als Rebecca aufwachte, gab Charlotte ihr aus einem Becher Milch und gelbes Maisbrot, das die Kleine so mochte. Sarah hatte ihnen Unmengen von
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