Der elektrische Kuss - Roman
ungefähr sechs Wochen kannten. Er legte ihr die Worte wie der Hund seinem Herrn eine Wachtel vor die Füße, und sie fürchtete schon, er würde im nächsten Moment gerührt über seinen Wagemut in Tränen ausbrechen. Ihr fielen in jenem Moment höchstens zwei, drei Leute aus ihrem Familien- und Bekanntenkreis ein, die keine Atheisten waren. Die schauten allerdings teilnahmslos ins Leere, wenn sie sonntags in der Kirche saßen, und nicht so leidenschaftlich leidend wie Felix. Was also sollte sie ihm antworten?
»Und ich bin Elektriker.«
Er starrte sie nur an und blinzelte, als ob ihm gerade ein Insekt ins Auge geflogen wäre. Charlotte vermutete, dass er gar nicht verstanden hatte, was sie meinte. Und wenn doch, dann war er noch immer mehr über die Abgründe seines eigenen Bekenntnisses erschrocken als über das, was sie ihm gerade leichthin wie eine Einladung zum Parkspaziergang gesagt hatte. Sie musste ihn küssen. Seitdem hatte sie ihn oft geküsst, denn sie musste ihn oft trösten. Außerdem wollte sie sich dankbar zeigen. Weil er hinter dem Rücken des Fürsten und auf dessen Kosten ein Buch nach dem anderen für sie bestellte. Der Wind wurde stärker.
Hundert Schritte nach dem Gekreuzigten verließ Charlotte die Straße wieder und stieg die Anhöhe hinter Bolanden hinauf. Manchmal musste sie sich an einer Wurzel oder einem Stein festhalten, die dünnen Sohlen ihrer Pantoffeln glitten immer wieder ab, Disteln und Dornen kratzten an ihren Beinen, einmal griff sie mit den Händen in Schafskot. Überall hatten Mäuse in die dünngrasigen Hänge ihre verschlungenen Schriftzüge geritzt. Charlotte bekam Seitenstechen, aber sie musste weiter hinauf. Auf keinen Fall durfte ihr kostbarer Drache kaputtgehen. Als sie ein ziemlich weites Stück rückwärts rutschte, hielt sie ihn krampfhaft hoch wie ein verwundeter Soldat die Standarte seines Regiments.
Auf dem Rist ruhte sie sich zum ersten Mal etwas aus. Sie atmete flach. Der Wind hatte inzwischen noch mehr aufgefrischt und riss an ihren Haaren. Die Gewitterwolken schoben sich näher. Aber sie wollte noch mehr an sie heran, ihr Experiment brauchte ideale Bedingungen. Etwas langsamer ging sie weiter. Der jähe, heisere Ruf eines Vogels lenkte ihren Blick tief nach unten, wo der Bach neben dem Feldweg floss. Charlotte blieb stehen. Sie sah vier oder fünf Menschen und ein Fuhrwerk mit zwei Pferden davor, die sich in der Morgendämmerung und im Brausen des Windes lautlos in dieselbe Richtung wie sie bewegten. Wo um Gottes willen wollten die Leute bei diesem Wetter hin? Charlotte stutzte. Waren das etwa die Pächter vom Hof ihres Vaters? Diese Kindsköpfe in absonderlichen Kleidern, die, wenn man ihnen einmal, was selten genug vorkam, in Bolanden oder Kirchheim über den Weg lief, grottenolmig auf den Boden starrten. Sie musste weiter!
Gerade in diesem Moment bog der kleine Trupp im Tal auf ein Getreidefeld ein, die Pferde standen still, die Männer luden Sensen ab und fingen an, in schnellen, schwingenden Bögen zu mähen. Einer, so kam es Charlotte vor, gab den Takt an, breitschultrig unter einem runden, großen Hut. Frauen in schwarzen Röcken bündelten die gemähten Halme und lehnten sie gegen das Fuhrwerk. Hatten sie keine Angst, spürten sie nicht die von Minute zu Minute stärker anschwellende und saugende Kraft in der Luft? Wenn Charlottes Theorie stimmte, gaben die eisernen Sensen ideale Konduktoren ab. Sie formte ihre Hände zu einem Trichter:
»Passen Sie auf, die Elektrizität!«
Sie legte all ihre Kraft in den Schrei, wartete, atmete tief ein und aus, genoss die schwere Gewitterluft, die über ihr Gesicht strich, und schrie noch einmal gellend laut. Wieder versickerten ihre Worte im Wind. Keiner dort unten hob den Kopf. In den Wolken brummte und gurgelte es, doch die kleinen tauben Gestalten auf dem Feld werkelten unverdrossen weiter. Charlotte lief bis über die nächste Kuppe zu einer Gruppe zerzauster Wacholderbüsche, dann blickte sie ein letztes Mal zum Feld hinunter, sah, wie der abgemähte Streifen breiter wurde und der Mann an der Spitze gleichmäßiger denn je seine Sense schwang. Diese Idioten! Charlottes Haare schlugen vor ihrem Gesicht zusammen. Der Wind kam jetzt von allen Seiten, stieß von hinten und drückte gleichzeitig von vorne. Charlotte stapfte weiter und bohrte ein ums andere Mal die Absätze ihrer Pantoffel in den knochentrockenen Boden.
Die Stelle, für die sie sich dann entschied, war ein kleines Plateau mit ausgezupftem
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