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Der elektrische Kuss - Roman

Titel: Der elektrische Kuss - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Susanne Betz
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sie mit spitzen Fingern aufzupicken, fand die Fäden aber nicht, zwickte dabei nur ins eigene Fleisch. Würgende Angst stieg in ihr auf. Hatte sie mit ihrem Experiment den Bogen überspannt?
    Niemand würde ihre Hilfeschreie hören. Die Bauern unten auf dem Feld waren viel zu weit weg, wahrscheinlich schon fertig mit dem Mähen und auf dem Nachhauseweg. Die wabernden und zuckenden Spinnweben nahmen ihre gesamte Haut, die in den Achselhöhlen, Ohren und unter den Haaren in Beschlag, sogar ihre Lippen und Augenlider, leicht, zittrig und doch entsetzlich unheimlich. Fortlaufen, schoss ihr durch den Kopf. Schnell fort von hier und diesem gewalttätigen, heimtückischen Himmel. Und den Drachen einfach fliegen lassen? Alle ihre Vorbereitungen wären umsonst. Was um Gottes willen spielte sich hier ab? Führte jemand ein Experiment durch, bei dem eigentlich sie das Versuchsobjekt war und das jetzt außer Kontrolle geriet? Noch nie hatte sie bei Gray oder Dufay von so etwas gelesen. Oder doch? Spinnweben, Zuckungen. Charlotte schluckte. Berührungslose Berührung! Geschah das gerade mit ihr?
    Und dann sah sie sie. Funken, die kobaltblau und silbrig aus den Rändern des Drachens sprühten. Charlottes Angst wich augenblicklich einer grenzenlosen Neugier, das rasende Herzklopfen blieb. Sie hörte sogar das Knistern, denn der Wind war stiller geworden. Hin und wieder fielen an einer Stelle die tanzenden Funken in sich zusammen, spritzten dafür an einer anderen wieder höher und blauer als zuvor. Ein vollkommeneres Feuerwerk, da war sich Charlotte sicher, hatte noch nicht einmal der Kurfürst in Mannheim abbrennen lassen. Die Spinnweben auf ihrer Haut kribbelten nach wie vor, aber sie wusste jetzt warum. Die Elektrizität! Sie hatte dem Himmel die Elektrizität entlockt. Sie hatte sich selbst elektrisiert. Die Macht des Himmels war mit einem Papierdrachen, einem bunten Kinderspielzeug, entlarvt worden.
    Charlotte stand und staunte. Bis die ersten dicken Tropfen aus den Wolken platzten. Noch als eine schräge Regenwand sie vollkommen durchnässte und der Drachen, zu einem jämmerlichen Bündel verkohlt und zerbrochen, in einem Strauch am Abhang hängen blieb, stand sie auf der höchsten Stelle der Hügelkette. Jubilierend und zu ihrer eigenen Überraschung tatsächlich glücklich. Der Boden um sie herum saugte nach den Wochen der Trockenheit gierig die Wassermassen auf. Die Luft roch frisch und jünger.
    Es regnete den ganzen restlichen Tag. Grau und vorhangdicht, zwischendurch dünner und gemütlich wie ein gewöhnlicher Landregen. Dann ballten sich erneut violette und braune Wolken zusammen und schleuderten Blitz und Donner heraus. Bis schließlich wieder fette Tropfen, schwer wie Kristalle, zur Erde fielen und zersprangen. Auf den Wegen und Landstraßen schossen braune Bäche dahin und weichten sie auf, bis sie unpassierbar wurden. In Kirchheim schwamm wie so oft Abfall und Kot in den engen Gassen. Als Ernst Christoph Graf von Manteuffel kurz vor neun Uhr in den festlich erleuchteten Bildersaal des Kirchheimer Schlosses geführt wurde, sah jeder, dass seine Seidenstrümpfe voller hässlicher Spritzer waren, seine taubenblauen Kniehosen teilweise auch. Seine Kutsche war unterwegs in einen Graben gerutscht, und ein Rad hatte ausgewechselt werden müssen. Hier ist das Ende der Welt, hatte er sich gedacht und keine Zeit mehr zum Umziehen gehabt.
    »Ein Studienfreund aus Jugendzeiten, einst der beste Mann im Kabinett seines Kurfürsten. Und jetzt dessen verlängerter Arm an der Universität Leipzig, damit sich die Naturwissenschaften, auf die neuerdings alle so versessen sind, auch rechnen«, stellte ihn der Fürst vor und kräuselte launig die Lippen, bevor er fortfuhr, »und natürlich wie die Sachsen so sind, immer am Puls unserer schnellen Zeit.«
    Amalia von Geispitzheim klappte ihren Fächer zu, den neuen mit der japanischen Landschaft, und stupste die Spitze gegen die schmale Brust des Gastes.
    »Schnelle Zeiten bräuchten eher schnelle Männer. Fühlen Sie also nur den Puls oder können Sie auch mit der Geschwindigkeit mithalten, Graf?«
    »Das scheint mir inzwischen überflüssig und Vergeudung. Denn unsere Zeit hat ja jetzt etwas, was die Zeit überholt und weit hinter sich lässt. In Leipzig sind wir auf diesem Gebiet führend.«
    Amalia klappte ihren Fächer wieder auf, und Charlotte genoss insgeheim die seltene Situation, dass ihrer Mutter keine passende Antwort einfiel. Stattdessen bedachte die Mätresse des Fürsten

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