Der Engel Der Kurie
Mißmutig zog er sich an. Nach der späten Morgenandacht ging er zur Universität, um seine wöchentliche Vorlesung aus dem Bereich des Deliktsrechts zu halten. Er las zur Zeit über Fragen der Kausalität, also darüber, nach welchen Kriterien beurteilt wird, ob eine in der Vergangenheit gesetzte Handlung ursächlich sei für einen in der Gegenwart eingetretenen Erfolg und inwieweit diese Ursache im Rechtssinne für das Geschehene verantwortlich zu machen sei. Diese Fragestellung hatte ihn schon zu Beginn seiner juristischen Studien gefesselt und seitdem nicht losgelassen; er konnte in die spitzfindigsten Erörterungen eintreten und hatte dies bei seinem Doktor-Kolloquium zur Freude seiner Professoren auch getan. Leider fanden die Studenten an der Sapienza keinen besonderen Gefallen an diesen Sophistereien, im Gegenteil: sie hatten teilweise Mühe, sich überhaupt den Grundgedanken der conditio sine qua non vorzustellen. Dabei war das wirklich simpel. Gestern morgen zum Beispiel hatte ein Mordgeselle die Dirne vom hohen Ufer auf den schmalen Uferstreifen des Tiber hinuntergeworfen. Hätte die Dirne sich in dieser Nacht woandershin begeben, wäre nichts geschehen; ihre eigene Handlung war also ursächlich für ihr weiteres Geschick und mithin den eingetretenen Erfolg ihres Todes, wobei das Wort ›Erfolg‹ im Angesicht des Todes einen skurrilen Klang erhielt. Hätte die Dirne niemals das Hurengewerbe ergriffen, wäre nicht geschehen, was geschah. Falls sie von einer Kurtisanenmutter – oder gar ihrer leiblichen Mutter – zu diesem Gewerbe angehalten worden war, dann war diese Handlung ursächlich für den späteren Verlauf. Oder, noch weiter zurück: hätte ihr Vater sie einst nicht gezeugt, hätte kein Mordgeselle sie zu Tode bringen können. Ergo war ihre Zeugung ursächlich für ihren Tod. Aber, spann Jakob den Faden fort, Kardinal Farnese würde ihn einen Narren heißen, schleppte er den Vater als Täter an. Eine Ursache zu setzen hieß noch lange nicht, verantwortlich im Rechtssinne zu sein, sondern war lediglich eine Voraussetzung, denn wer eine Ursache setzte, der konnte nicht verantwortlich sein. Schade, daß seine Scholaren die Finessen nicht begriffen, die sich hinter diesen Gedanken versteckten.
Jakob ging geradewegs auf seinen Hörsaal zu, als ihn einer seiner Studenten ansprach: »Doktor, verzeiht, wenn ich Euch störe, aber mein Vater läßt Euch höflich bitten, uns einen Besuch abzustatten; er möchte gern Fragen der äquivalenten und adäquaten Kausalität mit Euch erörtern. Er ist, wenn ich das so sagen darf, ein scharfsinniger Denker und leidenschaftlicher Schachspieler.«
»Ich freue mich über die Einladung«, erwiderte Jakob überrascht.
»Heute abend geben wir eine kleine Gesellschaft«, fuhr der Student fort, »und wenn Ihr es wünscht, läßt mein Vater Euch abholen.«
»Das ist nicht nötig«, wehrte Jakob ab. »Wo soll ich mich einfinden?«
»In der Villa Farnese.«
»Beim Kardinal Ottavio Farnese?«
»Nein.« Der Student lachte. »Bei Ambrogio Farnese; wir sind eine verarmte Seitenlinie. Unsere Villa liegt bei der Pyramide; es ist ein Stück Weges.«
»Trotzdem werde ich zu Fuß gehen.« Jakob blieb bei seiner Ablehnung. Zwar wäre er gern einmal mit einer dieser neuen Kutschen gefahren, die zur Zeit den Inbegriff des römischen Luxus bildeten, doch wollte er vor allem gegenüber seinen Studenten als bescheiden gelten und ein gutes Vorbild mönchischen Lebens abgeben.
Der junge Mann lächelte. »Ich werde meinem Vater ausrichten, daß Ihr kommt.«
Respektvoll ließ er Jakob den Vortritt in den kleinen Hörsaal, in dem sich ungefähr zwanzig Scholaren versammelt hatten.
Nach der Vorlesung, die langweilig wie stets verlaufen war, weil die Studenten nur lethargisch zuhörten und sich zu keiner Fragestellung eine Disputado ergab, nickte Jakob dem jungen Farnese kurz zu und machte sich auf den Weg zum Camposanto. Er wollte in seiner Zelle ausruhen und weiter über seinen Auftrag nachdenken, ehe er sich zu dem Fest von Ambrogio Farnese begab. Die plötzliche Einladung berührte ihn seltsam. Gewiß war sie kein Zufall; eine tiefere Bedeutung steckte dahinter; aber welche?
Jakob lehnte an der Balustrade der Engelsbrücke; er blickte zu den braunen Wassern des Tiber hinab und glaubte die Tote zu sehen. Manche Welle hatte eine weiße kleine Krone; in den wirren Strudeln standen schwarze Augen, so tief und ruhig wie die Pupillen der Ermordeten. Seitlich der Brückenpfeiler trieb
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