Der Engel Esmeralda
Sekunde, bevor er auf die Knie ginge, die Hände auf der Brust, alles von überall, eine Milliarde Lebensminuten, die allesamt zu diesem Stillstand zusammenliefen.
Doch er blieb, wo er war, aufrecht. Er wandte sich zum Waschbecken und starrte eine Weile hinein. Er ließ Wasser laufen und tippte auf den Seifenspender, wusch sich die Hände gründlich, als müsse er eine Regel befolgen. Er pausierte erneut, erinnerte sich daran, was als Nächstes kam, danngriff er nach einem Papierhandtuch und noch einem und einem letzten.
Der Korridor war leer, Leute kamen die Rolltreppe hoch, der Spätfilm würde gleich beginnen. Er stand da und beobachtete sie und versuchte zu entscheiden, ob er bleiben oder gehen sollte.
Er kam regendurchnässt herein und erklomm langsam die Treppe. Einen Schritt vor dem Treppenabsatz im zweiten Stock erinnerte er sich an den entsprechenden Augenblick des Vorabends, sah sich den Schritt machen, und ein Tagesende kollabierte ins andere.
Er betrat die Wohnung leise und setzte sich auf sein Klappbett, um die Schnürsenkel aufzuziehen. Dann schaute er auf, Schuhe immer noch an, und dachte, irgendetwas stimmt nicht. Das fahle, fluoreszierende Licht über der Spüle brannte, flackernd wie immer, und er sah eine Gestalt vor dem hinteren Fenster, jemand, Flory, verharrte dort reglos. Er setzte an zu sprechen, hielt dann inne. Sie trug Strumpfhosen und ein Tank-Top und stand mit geschlossenen Beinen da, die Arme über den Kopf gereckt, senkrecht und mit verschränkten Händen, die Handflächen nach oben zeigend. Er war sich nicht sicher, ob sie ihn anschaute. Falls ja, war er sich nicht sicher, ob sie ihn sah.
Er bewegte keinen Muskel, saß einfach nur da und beobachtete. Das schien so schlicht zu sein, ein Mensch, der in einem Zimmer steht, eine Frage von Ruhe und Gleichgewicht. Aber mit dem Verstreichen der Zeit bekam die Position, die sie eingenommen hatte, eine Bedeutung, ja, sogar eine Geschichte, wenn auch keine, die er ergründen konnte. Bloße Füße nebeneinander, Beine, die sich leicht an den Knienund Oberschenkeln berührten, die erhobenen Arme, die einen Zentimeterbruchteil Freiraum auf beiden Seiten des Kopfes ließen. Wie die Hände ineinandergeschlungen waren, der gestreckte Körper, eine Symmetrie, eine Disziplin, die ihn denken ließ, er sähe etwas in ihr, das er noch nie erkannt hatte, eine Wahrheit oder Tiefe, die ihm zeigten, wer sie war. Er verlor jegliches Zeitgefühl, entschlossen, so lange absolut still zu bleiben, wie sie es tat, sie stetig zu beobachten, gleichmäßig zu atmen, niemals auszusetzen.
Wenn er auch nur blinzelte, würde sie verschwinden.
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1 Die Abbildung entstammt dem Buch Herakleion Museum , Ekdotike Athenon, 1982.
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2 Die Abbildung ist ein Gemälde von Gerhard Richter (Tote, aus »18. Oktober, 1977«, 1988) und erscheint mit freundlicher Genehmigung des Ateliers Gerhard Richter © 2012 Gerhard Richter. Digital Image
© 2012 The Museum of Modern Art, New York /SCALA, Florenz.
Das Buch
Don DeLillo gilt international als einer der bedeutendsten Autoren. Sein Weltruhm gründet auf seinen 15 bisher veröffentlichten Romanen wie »Unterwelt«, »Weißes Rauschen« oder »Falling Man«. Nun legt er zum ersten Mal einen Erzählband vor. Die neun hier gesammelten Erzählungen sind zwischen 1979 und 2011 entstanden.
Ein von Erdbeben erschüttertes Athen, ein Gefängnislager für Wirtschaftsverbrechen in den USA und das Weltall sind nur einige der Schauplätze dieser neun Erzählungen. Oft drehen sich die Geschichten um Individuen, die sich in rätselhaften oder beängstigenden Umständen wiederfinden: ein Paar, durch einen tropischen Sturm festgehalten auf einer karibischen Insel, konfrontiert mit unzuverlässigen Flugauskünften –; und einer allein reisenden Frau. Zwei Männer in einer Raumkapsel, die auf einen von Stürmen und Kriegen zerrissenen Erdball herabschauen und Radio stimmen aus einer vergangenen Zeit hören. Zwei Nonnen, die als Streetworker in der South Bronx arbeiten und ein Wunder beglaubigen: die nächtliche Erscheinung eines ermordeten Kindes auf einer Werbetafel –; der Engel Esmeralda.
DeLillos Erzählungen bieten eine virtuose Tour de Force durch den literarischen Kosmos dieses Ausnahmeschriftstellers und sind ein Lesevergnügen der Extraklasse.
Der Autor
Don DeLillo , 1936 geboren in New York, ist der Autor von 15 Romanen und drei Theaterstücken. Sein umfangreiches Werk wurde mit dem National Book
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