Der Engelmacher
geheilt habe.
»Im Matthäus-Evangelium, Kapitel 15«, hatte Bernadette gesagt und den Priester darauf hingewiesen, dass Doktor Hoppe selbst erklärt hatte, das Los seiner Kinder liege in den Händen Gottes. Er wollte also offenbar, dass seine Kinder Frieden in Gott fänden. Die Krankensalbung würde ihnen dabei sicher helfen, und dem Doktor würde sie die Kraft geben, den Verlust zu verwinden.
Pastor Kaisergruber hatte zunächst am Mittwochnachmittag und dann noch einmal am Donnerstagnachmittag am Tor des Doktors geklingelt. Zuvor hatte er versucht anzurufen, aber der Doktor hatte nicht abgenommen. Manche Dorfbewohner fingen inzwischen an, sich ernstlich Sorgen zu machen, nachdem Doktor Hoppe schon ein paar Tage lang nichts von sich hatte hören lassen. Immerhin hatte er eine Wahnsinnige in seinen Haushalt aufgenommen, die nun auf seine Kinder aufpasste, und auch diese Frau hatte sich nicht mehr blicken lassen, seit sie Jacob Weinstein am Dienstagvormittag auf dem Friedhof allerlei Unsinn erzählt hatte.
Irma Nussbaum war sogar kurz davor gewesen, die Polizei anzurufen, damit die Beamten das Haus stürmten. Aber davon hatte man abgeraten, weil der Doktor wahrscheinlich ständig am Sterbelager seiner Kinder wachte. Das hatte Irma indes nicht beruhigt, und nachdem sie den ganzen Tag über kein Lebenszeichen hinter den Fenstern des Doktorhauses entdeckt hatte, hatte sie Vera Weber angerufen, vorgeblich um sich nach deren Befinden zu erkundigen. Beiläufig hatte sie auch gefragt, ob Vera eigentlich noch einen Termin bei Doktor Hoppe habe, denn dann musste er sich schließlich blicken lassen.
»Entweder morgen oder Samstag«, hatte Vera nach kurzem Zögern geantwortet. »Er wollte mich noch anrufen.«
»Da bin ich gespannt«, hatte Irma gesagt, »ich mache mir wirklich Sorgen.«
Nach dem Grund des Termins hatte sie nicht gefragt, um Vera nicht in Verlegenheit zu bringen. Und insgesamt wusste sie nun erstmal genug. Sie beschloss, bis Samstagabend zu warten, bevor sie weitere Schritte unternahm. Wenn der Doktor dann immer noch nichts von sich hatte hören lassen, konnte sie immer noch die Polizei anrufen.
Aber so lange brauchte sie nicht zu warten. Am Freitagabend erhielt sie das Lebenszeichen, auf das sie fast vier Tage lang gewartet hatte. Pastor Kaisergruber versuchte es an diesem Abend zum dritten Mal, weil er an den beiden darauffolgenden Tagen sicher nicht dazu kommen würde. Am Sonntag stünde schließlich die jährliche Pilgerfahrt auf den Kalvarienberg von La Chapelle auf dem Programm, ein Ereignis, das jährlich um den 22. Mai herum stattfand, den Namenstag der Heiligen Rita, Schutzpatronin von Wolfheim.
An jenem Abend klingelte der Priester zweimal kurz am Tor und drehte sich schon mit einer gewissen Erleichterung wieder um, als der Doktor doch noch aufmachte. Hinter dem Küchenfenster des Hauses gegenüber entfuhr Irma Nussbaum ein Seufzer der Erleichterung. Kaum war der Priester dem Doktor ins Haus gefolgt, fing sie an, ihre Freundinnen anzurufen, um ihnen die gute Neuigkeit mitzuteilen.
Pastor Kaisergruber war unwohl bei der Sache. Die Begrüßung Doktor Hoppes war wie immer sachlich. Der Priester hatte noch nicht einmal sagen können, was ihn herführte, da wurde er schon ins Sprechzimmer gebracht, als müsse er wegen irgendeines Leidens behandelt werden. Als der Doktor hinter seinem Schreibtisch Platz nahm, griff der Priester kurz durch den Stoff seines Jacketts hindurch an das Fläschchen mit Öl. Er hatte die Soutane, die ihm lange treue Dienste geleistet hatte, bereits vor mehr als zwei Jahren gegen einen dunklen Anzug eingetauscht, sich aber immer noch nicht an die vielen Taschen gewöhnt. Die Kirche musste natürlich mit der Zeit gehen, aber er hatte damit so seine Probleme.
Als er Doktor Hoppe nun gegenübersaß, musste er auch wieder an frühere Zeiten denken. An Victors Vater. Wie Karl Hoppe gegen Ende seines Lebens, so sah nun auch der Sohn aus. Das schmale, etwas eingefallene Gesicht, der ungepflegte rötliche Bart mit der Narbe, die flache Nase und die hellblauen Augen, alles war fast genau gleich. Lediglich das Haar trug Victor anders, länger, sogar viel länger, als der Priester es bisher je bei ihm gesehen hatte. Es reichte ihm fast bis zu den Schultern.
Pastor Kaisergruber hustete kurz und setzte an, das Eis zu brechen. Automatisch legte er die Hand auf die Tasche seines Jacketts, als verliehe das Fläschchen ihm die nötige Kraft.
»Weshalb ich gekommen bin …«, sagte er, doch
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