Der Engelmacher
paar Schritte von ihm entfernt war, sprach er sie an: »Suchen Sie ein bestimmtes Grab?«
Sie sah ihn an, als wäre er vom Tode auferstanden. Mit weit aufgerissenen Augen trat sie einen Schritt zurück.
»Ich bin der Küster«, versuchte er sie zu beruhigen. Er sah, dass sie in Panik war. »Wenn Sie mir sagen, welches Grab Sie suchen, kann ich Ihnen vielleicht helfen.«
Scheu sah sie sich um.
»Michael«, sagte sie. »Das von Michael.«
»Von wem?«
»Von Michael.«
»Kennen Sie auch den Nachnamen? Mit dem Vornamen allein komme ich auch nicht weiter.«
»Hoppe. Hoppe, nehme ich an.«
»Hoppe. Wie der Doktor? Sie meinen wohl seinen Vater? Der liegt hier tatsächlich. Er war auch Arzt. Aber er hieß nicht Michael. Ich kann Ihnen …«
Schnell schüttelte sie den Kopf.
»Eins von meinen … eins der Kinder. Ein kleiner Junge.«
»Ach, den Michael meinen Sie? Den Bruder von Gabriel und Raphael? Einen der kleinen Erzengel?«
Letzteres schien sie nicht zu begreifen. Sie war offensichtlich verwirrt. Vielleicht war sie noch nicht einmal gläubig.
»Michael Hoppe«, sagte sie noch einmal, »der kleine Junge vom Doktor.«
Er hatte sie also richtig verstanden. Aber offenbar täuschte sie sich.
»Der ist aber doch nicht tot, gnädige Frau.«
Sie nickte.
»Doch«, sagte sie, »das ist er. Schon seit letzter Woche.«
»Ich glaube, da haben Sie etwas falsch verstanden. Die Kinder sind ernsthaft krank, das schon. Aber tot? Und schon vorige Woche? Dann wäre er doch inzwischen längst begraben. Und hier ist seit Monaten niemand mehr begraben worden. Ich bin sicher, Sie täuschen sich.«
»Nein, der Doktor hat es gesagt. Ich weiß es genau. Er hat es gesagt.«
Plötzlich wurde dem Küster klar, mit wem er es zu tun hatte. Dies war die Frau, die in den letzten Tagen in aller Munde war, die die Kinder von Maria Moresnet belästigt und dann behauptet hatte, sie wäre die Mutter der Doktorkinder. Nachdem der Doktor sie eingelassen hatte, hatte sie niemand mehr zu Gesicht bekommen. Sie musste es sein. Und sie war verrückt, hieß es.
»Hier liegt kein Michael Hoppe, gnädige Frau«, sagte er beherzt. »Sie bilden sich da etwas ein. Er ist nicht tot.«
»Sie lügen! Genau wie alle anderen! Alle!«, rief sie laut aus und streckte dabei theatralisch die Arme in die Höhe.
»Entschuldigung, aber dies ist ein Friedhof. Ich kann es nicht dulden …«
Aber sie hatte sich schon umgedreht und rannte auf den Ausgang zu. Er eilte ihr nach und sah, dass sie direkt zum Haus des Doktors ging. Sie hatte sogar einen Schlüssel. Es dauerte einen Moment, bis sie das Tor auf hatte, aber dann eilte sie rasch über den Pfad zur Haustür. Ohne sich umzusehen, verschwand sie im Innern.
Die Zimmertür stand auf. Sie war sicher, dass sie sie beim Weggehen zugemacht hatte.
»Gabriel? Raphael?«
Sie steckte den Kopf zur Tür hinein. Das Bett war zumindest nicht leer. Womit sie durchaus gerechnet hatte. Was sie schon befürchtet hatte.
Sie ging weiter. Am Fußende des Bettes blieb sie stehen. Sie sah nur ein einziges Kind. Die Stelle, wo Raphael gelegen hatte, war leer. Und dreckig. Es traf sie wie ein Messerstoß in den Bauch.
Mechanisch trat sie an die andere Seite des Bettes. Sie bückte sich und hob Gabriel vorsichtig hoch, wobei sie seinen Kopf mit der Hand stützte.
»Wo ist Raphael? Gabriel, wo ist Raphael? Gabriel, sieh mich an.«
Gabriel reagierte nicht. Er atmete zwar noch, zum Glück atmete er noch, aber er öffnete die Augen nicht mehr. Alles, was er noch tat, war atmen.
Sie legte ihn wieder auf das Laken zurück. Er war so leicht, dass sein Kopf kaum in das Kissen einsank.
Sie atmete in Stößen. Es kam ihr vor, als würde ihr jemand die Kehle zudrücken. Suchend sah sie um sich, doch sie wusste, dass sie Raphael in diesem Zimmer nicht finden würde.
Er ist nicht tot.
Der Doktor hat ihn bloß in ein anderes Zimmer gebracht, dachte sie. Dort war sicher auch Michael. An diesem Strohhalm hielt sie sich fest.
Auf der Türschwelle drehte sie sich noch einmal um.
»Ich bin gleich wieder da«, sagte sie. »Und dann bringe ich deine Brüderchen mit. Raphael. Michael. Ich gehe sie holen.«
Sowohl Hoffnung als auch Verzweiflung trieben sie an. Außerdem Wut. Und mehr und mehr auch Hass. Hass auf den Mann, der für all dies verantwortlich war. Und der einfach so weitermachte.
Sie fand ihn im Sprechzimmer. Er stand mit dem Rücken zu ihr und wusch sich die Hände.
»Wo sind sie?«
Ihre Stimme war heiser. Sie hatte schon
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