Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Engelmacher

Der Engelmacher

Titel: Der Engelmacher Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Brijs
Vom Netzwerk:
seit längerer Zeit nichts mehr getrunken. Sie hatte auch keinerlei Zeitgefühl mehr. Sie wusste nicht, wie lange sie weg gewesen war.
    Der Doktor sah halb über die Schulter zurück und wusch sich weiter die Hände. Dann drehte er den Hahn zu.
    »Wo sind sie? Wo sind Michael und Raphael? Sie sind nicht tot. Das weiß ich. Sie sind nicht tot.«
    Er griff nach einem Handtuch und fing an, sich ausführlich die Hände abzutrocknen. Oberseite. Unterseite. Finger für Finger. Zwischen den Fingern.
    Flüchtig sah sie sich im Sprechzimmer um. Ihr Blick fiel auf den Untersuchungstisch mit den Beinstützen. Wieder verspürte sie einen Stich im Bauch. Wie um ihren Hass noch mehr zu nähren, strich sie mit den Fingerspitzen über die geschwollene Narbe. Durch den Stoff der Bluse hindurch fühlte die sich an wie ein Dornenzweig. Die unregelmäßige Naht war eine Reihe von Dornen, an denen sie sich stach. Achtundvierzig Dornen. Sie hatte sie oft gezählt.
    »Wo sind sie?«, drängte sie.
    Der Doktor hängte das Handtuch zurück. »Sie sind tot«, sagte er. »Sie sind beide tot.«
    Er sah sie nicht an.
    »Sie lügen. Zum tausendsten Male lügen Sie.«
    Geräuschvoll zog er die Nase hoch und schüttelte den Kopf.
    »Möchten Sie sie sehen? Glauben Sie es dann? Wenn ich sie Ihnen zeige?«
    Sie hatte nicht erwartet, dass er so schnell nachgeben würde. Sie nickte: »Und ob ich sie sehen will. Jetzt sofort.« Ihre Kehle war wie zugeschnürt.
    »Ich zeige sie Ihnen. Kommen Sie ruhig mit.«
    Er ging zu der Tür hinter seinem Schreibtisch, öffnete sie und verschwand in dem dahinter liegenden Raum.
    Sie zögerte kurz. Sie versuchte, sich vorzustellen, was sie gleich zu sehen bekommen würde. Die Jungen würden vermutlich zusammen in einem Bett liegen, vielleicht mit Sauerstoffmasken und Infusionen in den Armen. Und wahrscheinlich umgeben von allerlei Apparaten. Das wäre gut möglich. Darauf bereitete sie sich innerlich vor, auf ein solches Bild. Dann betrat sie den Raum.
    Sie standen brüderlich nebeneinander. Er hatte sie brüderlich nebeneinander gestellt, in der Mitte des Zimmers, auf einem freien Tisch, und trat nun einen Schritt zurück, damit sie sie ebenfalls sehen konnte.
    Sie trieben. Mit gekrümmten Rücken, gesenkten Köpfen, geschlossenen Augen, die Hände leicht zu Fäusten geballt, trieben sie in Wasser. Zwei große Glasgefäße voll Wasser, und in jedem davon ein Körper.
    Ihr blieb die Luft weg. Sie konnte lediglich noch ausatmen, stoßweise. Sie bekam kein Wort mehr heraus. Sie konnte den Blick nicht davon abwenden, was da auf dem Tisch stand.
    Sie musste sich an dem Schrank neben ihr festhalten. Mit der Hand warf sie eine Metallschale um. Das Geräusch erschreckte sie, es schien von weit her zu kommen. Als befinde sie sich in einem Traum, und in der Wirklichkeit sei etwas umgefallen. Aber sie wachte nicht auf. Sie war bereits hellwach. Und die Stimme, die sie nun hörte, war auch echt. Tonlos, emotionslos, aber echt: »Sehen Sie, sie sind tot. Ich lüge nicht.«
    Wenn er geschwiegen hätte, wenn er nichts gesagt hätte, dann wäre sie vielleicht weggelaufen. Weit weg. Für immer.
    Sie sah das Skalpell auf dem Schrank liegen. Es war nicht zu übersehen, und wenn man danach griff, war es nicht zu verfehlen. Außerdem lagen in all den Schalen auf dem Schrank Skalpelle, Scheren, Nadeln. Sie griff nach einem Skalpell, hob die Hand und stürzte auf den Doktor zu. Sie holte nicht aus. Dafür hatte sie nicht die Kraft. Sie ließ das Skalpell auf ihn niederfahren. Ihr Arm vollführte dabei einen weiten Bogen, und das Skalpell durchtrennte ohne weiteres den Stoff von Jacke und Hemd und drang ihm an der Seite tief ins Fleisch.

9
    Pastor Kaisergruber hatte sich schon zweimal mit einer Flasche voll geweihtem Öl zu Doktor Hoppe begeben. Beide Male war das Tor verschlossen geblieben. Weil er wusste, dass der Doktor auch anderen nicht öffnete, nahm er es nicht persönlich. Außerdem fand er es alles andere als schlimm, er hatte sich sowieso nur widerwillig auf den Weg gemacht, und auch nur, weil manche seiner Schäfchen ihn dazu gedrängt hatten. Sie wollten, dass er den sterbenden Doktorkindern das letzte Sakrament spendete. Zunächst hatte er sich dagegen gesträubt und behauptet, die Kinder seien dafür zu jung, und er wisse noch nicht einmal, ob sie überhaupt getauft seien. Aber Bernadette Liebknecht hatte ihn daraufhin an die kanaanäische Frau erinnert, deren Kind der Herr Jesus allein aufgrund ihres aufrechten Glaubens

Weitere Kostenlose Bücher