Der entzauberte Regenbogen
Lebens. Und in wenigen Jahrzehnten müssen wir sie wieder schließen. Ist es nicht eine edle, erleuchtete Art, unsere kurze Zeit unter der Sonne zu verbringen, wenn wir zu verstehen streben, was das Universum ist und wie es kommt, dass wir darin erwacht sind? Das ist meine Antwort, wenn ich – erstaunlich oft – gefragt werde, warum ich mir die Mühe mache, morgens aufzustehen. Oder anders herum ausgedrückt: Ist es nicht traurig, wenn man ins Grab sinkt, ohne sich jemals gefragt zu haben, warum man geboren wurde? Wer würde bei einem solchen Gedanken nicht aus dem Bett aufspringen, voller Eifer, mit der Erkundung der Welt fortzufahren und sich zu freuen, dass man dazugehört?
Ähnlichen Trost fand die Dichterin Kathleen Raine, die an der Universität Cambridge Naturwissenschaften lehrte und sich auf Biologie spezialisiert hatte, als sie in jungen Jahren Liebeskummer hatte und verzweifelt nach einer Linderung für ihren Herzschmerz suchte:
Da sprach der Himmel, sprach zu mir so klar
so herzvertraut, so innig-nah
zu meiner Seele: ‹Was du wünschst, ist da.›
‹Sieh, du bist eins mit aller Kreatur,
mit Wolken, Winden, dem Getier in Wald und Flur
mit Sternen, Meeren teilst du die Natur.›
‹Wirf ab von deinem Herzen Angst und Pein,
halt Grabesruh oder saug’ Leben ein,
die Welt hast mit der Blume und dem Tiger du gemein.›
«Passion» (1943)
Es gibt eine Betäubungswirkung des Vertrauten, einen Beruhigungseffekt des Normalen, das die Sinne einschläfert und das Wunder des Daseins verschleiert. Für uns, die wir nicht die Gabe der Dichtkunst besitzen, lohnt sich zumindest der Versuch, diese Betäubung von Zeit zu Zeit abzuschütteln. Wie wirkt man am besten der nachlässigen Gewöhnung entgegen, die sich einschleicht, während wir allmählich das Kleinkindalter verlassen? Wir können nicht buchstäblich zu einem anderen Planeten fliegen. Aber das Gefühl, wir seien gerade in einer neuen Welt ins Leben gestolpert, können wir noch einmal einfangen, wenn wir unsere eigene Welt auf ungewohnte Weise betrachten. Man ist versucht, ein einfaches Beispiel wie den Schmetterling oder die Rose zu bemühen, aber begeben wir uns doch gleich ans fremdartige Ende des Spektrums. Ich weiß noch, wie ich vor Jahren einmal den Vortrag eines Biologen hörte, der sich mit den Tintenfischen und ihren Verwandten, den Kraken, beschäftigte. Zu Beginn erklärte er, warum diese Tiere ihn so fesselten. «Wissen Sie», sagte er, «das sind die Marsbewohner.» Haben Sie schon einmal zugesehen, wie ein Tintenfisch die Farbe wechselt?
Fernsehbilder werden manchmal auf riesigen Wänden aus Leuchtdioden oder LEDs (LED = light emitting diode ) wiedergegeben. Ein solches LED-Display ist kein Bildschirm, auf dem ein Elektronenstrahl Zeile für Zeile über einen Leuchtschirm läuft, sondern eine großflächige Anordnung aus winzigen glimmenden Lichtern, die sich einzeln steuern lassen. Jede Leuchtdiode wird gezielt heller oder dunkler eingestellt, sodass es aus größerer Entfernung aussieht, als bestünde die Fläche aus bewegten Bildern. Wie ein solches LED-Display verhält sich auch die Haut des Tintenfisches. Statt der Lichter enthält sie viele tausend winzige, mit Tinte gefüllte Hohlräume, und jeder davon kann von seinen eigenen kleinen Muskeln zusammengepresst werden. Da jeder Muskel mit einer Steuerungsleitung verbunden ist, kann das Nervensystem des Tintenfisches die Form und damit die Färbung der Tintenbeutel kontrollieren.
Würde man die Nerven, die zu diesen «Tintenpixeln» führen, über Drähte anzapfen und mit einem Computer stimulieren, könnte man theoretisch auf der Haut des Tieres Charlie-Chaplin-Filme ablaufen lassen. Das tut der Tintenfisch zwar nicht, aber sein Gehirn steuert die Leitungen ebenfalls sehr schnell und präzise, sodass die Haut ein Aufsehen erregendes Farbenspiel zeigt. Farbwellen jagen über die Oberfläche wie Wolken in Zeitrafferaufnahme; auf dem lebenden Bildschirm wechseln sich Streifen und Wirbel ab. Seine wechselnden Gefühle lässt das Tier im Schnelldurchlauf erkennen: In einer Sekunde ist es dunkelbraun, in der nächsten erbleicht es zu geisterhaftem Weiß, und ständig verändert es seine verschlungenen Flecken- oder Streifenmuster. Was den Farbwechsel angeht, ist das Chamäleon im Vergleich zum Tintenfisch ein Waisenknabe.
Zu denen, die sich heute heftig darüber Gedanken machen, was Denken eigentlich ist, gehört der amerikanische Neurobiologe William Calvin. Wie schon
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