Der Erdsee Zyklus 06 - Rückkehr nach Erdsee

Botschaft für den Meister des Gebietens geschickt habe, aber er bekam nicht die Gelegenheit zu sprechen. Der Türwächter schaute ihn an und sprach dann mit freundlicher Stimme: »Du kannst sie nicht mit in dieses Haus bringen, Freund.«
    Erle fragte nicht, wer es war, den er da nicht mit ins Haus bringen konnte. Er wusste es auch so. Er hatte in den vergangenen Nächten kaum geschlafen, hatte nur kurze Fetzen Schlafes erhascht, um dann schweißgebadet und von Entsetzen gepackt wieder aufzuwachen, war bei Tage eingenickt und hatte das trockene Gras des Hanges durch das sonnenbeschienene Deck des Schiffes gesehen und die steinerne Mauer durch die Wogen des Meeres. Und wenn er wachte, war der Traum in ihm, bei ihm, um ihn herum, verschleiert, und er vernahm stets leise, über all die Laute des Windes und der See hinweg, die Stimmen, die seinen Namen riefen. Er wusste nicht, ob er jetzt wachte oder schlief. Er war von Sinnen vor Schmerz, Angst und Erschöpfung.
    »Sperre sie aus«, flehte er, »und lass mich ein, um Himmels willen, lass mich ein!«
    »Warte hier«, sagte der Mann so sanft und freundlich wie zuvor. »Dort ist eine Bank.« Er wies auf eine Bank. Und er schloss die Tür.
    Erle setzte sich auf die steinerne Bank. Daran entsann er sich, und er entsann sich auch an mehrere Jungen von etwa fünfzehn Jahren, die ihn neugierig anschauten, als sie an ihm vorbeikamen und durch die Tür gingen, aber an das, was eine Weile später geschah, konnte er sich nur mehr bruchstückhaft erinnern.
    Der Türwächter kam zurück mit einem jungen Mann mit dem Stab und dem Mantel eines Zauberers von Rok. Und dann war Erle plötzlich in einem Zimmer, das sich, wie er vermutete, in einem Logierhaus befand. Dort kam der Meister des Gebietens zu ihm und versuchte, mit ihm zu sprechen. Aber Erle war zu dem Zeitpunkt nicht im Stande zu sprechen. In der Welt der Lebenden - zwischen Schlafen und Wachen, zwischen dem von Sonnenlicht durchfluteten Zimmer und dem düsteren grauen Hang, zwischen der Stimme des Meisters des Gebietens, die zu ihm sprach, und den Stimmen, die ihn über die Mauer hinweg anriefen - konnte er nicht denken und sich nicht rühren. In der düsteren Welt aber, wo ihn die Stimmen riefen, würde es leicht sein, so glaubte er, die paar Schritte hinunter zur Mauer zu gehen und sich von den Händen, die sich ihm entgegenstreckten, ergreifen und festhalten zu lassen. Wenn er erst einer von ihnen wäre, würden sie ihn in Ruhe lassen, glaubte er.
    Dann, erinnerte er sich, war der sonnendurchflutete Raum gänzlich verschwunden, und er war auf dem grauen Hügel. Doch bei ihm stand der Gebieter von Rok: ein großer, derber, dunkelhäutiger Mann, bewehrt mit einem langen Eibenholzstab, der an der düsteren Stätte blank schimmerte.
    Die Stimmen hatten aufgehört, ihn zu rufen. Die Gestalten, die sich sonst hinter der Mauer drängten, waren fort. In der Ferne konnte er ein Rascheln hören und eine Art Schluchzen, als sie hinunter in die Dunkelheit gingen, fort von ihm.
    Der Gebieter trat an die Mauer und legte die Hände darauf.
    Die Steine waren hier und da gelockert worden. Ein paar waren aus dem Mauerwerk gefallen und lagen in dem trockenen Gras. Erle hatte das Gefühl, er sollte sie aufheben und wieder einsetzen, die Mauer flicken, aber er tat es nicht.
    Der Gebieter wandte sich zu ihm und fragte: »Wer brachte dich hierher?«
    »Mevre, mein Weib.«
    »Ruf sie her!«
    Erle stand für einen Augenblick sprachlos da. Schließlich öffnete er den Mund, aber es war nicht der wahre Name seines Weibes, den er sprach, sondern ihr Gebrauchsname, der Name, mit dem er sie zu Lebzeiten gerufen hatte. Er sprach ihn laut: »Lily ...« Sein Klang war nicht der einer weißen Blume, sondern der eines Kiesels, der in den Staub fällt.
    Kein Laut. Sterne leuchteten klein und bewegungslos an einem schwarzen Himmel. Erle hatte an diesem Ort noch nie zuvor zum Himmel geschaut. Er erkannte die Sterne nicht wieder.
    »Mevre!«, sagte der Gebieter, und mit seiner tiefen Stimme sprach er einige Worte in der Alten Sprache.
    Erle spürte, wie der Atem aus ihm wich, und er vermochte kaum zu stehen. Aber nichts regte sich auf dem langen Hang, der hinab in gestaltloses Dunkel führte.
    Doch dann bewegte sich plötzlich etwas, etwas Helleres, das den Hang herauf kam, langsam sich nähernd. Erle bebte vor Angst und vor Sehnsucht, und er wisperte: »Ach, meine teure Liebe!«
    Aber die Gestalt erwies sich, da sie näher kam, als zu klein, um Lily sein zu