Der Erdsee Zyklus 06 - Rückkehr nach Erdsee
-, und sie leiden und rufen mich flehentlich an.«
»Sie können nicht leiden«, belehrte ihn der Gebieter. »Der Tod setzt allem Leiden ein Ende.«
»Vielleicht ist Schmerz der Schatten von Schmerz«, sagte der Meister der Kräuterkunde. »Es gibt Berge in jenem Lande, und sie heißen Schmerz.«
Der Türwächter hatte bis zu dem Augenblick kaum etwas gesagt. Jetzt sprach er mit seiner ruhigen, ungezwungenen Stimme: »Erle ist ein Heiler, kein Brecher. Ich glaube nicht, dass er jenes Band zerbrechen kann.«
»Wenn er es hergestellt hat, kann er es auch zerreißen«, widersprach der Gebieter.
»Hat er es denn hergestellt?«
»Ich verfüge nicht über eine solche Kunst, Herr«, entgegnete Erle, so erschrocken über das, was sie da sagten, dass er erregt die Stimme hob.
»Dann muss ich hinunter zu ihnen steigen«, sagte der Gebieter.
»Nein, mein Freund«, sagte der Türwächter, und der alte Kräuterheiler fügte hinzu: »Du am allerwenigsten von uns allen.«
»Aber das erheischt meine Kunst.«
»Und unsere.«
»Wer also geht?«
Der Türwächter sprach: »Wie es scheint, ist Erle unser Führer. Er ist zu uns gekommen, um Hilfe zu suchen, und kann nun vielleicht uns helfen. Lasst uns alle mit ihm gehen in seinem Geiste - zu der Mauer, wenn auch nicht über sie.«
So geschah es, dass in jener Nacht, als Erle sich spät und angstvoll vom Schlaf übermannen ließ und sich sogleich auf dem grauen Hügel wiederfand, die anderen bei ihm waren: der Meister der Kräuterkunde, eine warme Präsenz in der frostigen Kühle; der Türwächter, flüchtig und silbrig wie Sternenschein; und der massige Gebieter, der Bär, eine dunkle Kraft.
Diesmal standen sie nicht dort, wo der Hang sich in die Dunkelheit verflüchtigte, sondern auf dem nahen Hang, diesseits der Mauer, den Blick zum Gipfel gewandt. Die Mauer verlief entlang der Kuppe des Hügels und war niedrig, kaum mehr als kniehoch. Der Himmel mit seinen wenigen kleinen Sternen war vollkommen schwarz.
Nichts regte sich.
Es würde schwer sein, bergan zu der Mauer zu laufen, dachte Erle. Sie war bisher immer unterhalb von ihm gewesen.
Aber wenn er zu ihr ginge, würde vielleicht Lily dort sein, wie schon beim ersten Mal. Vielleicht konnte er ihre Hand ergreifen, und die Magier würden sie zusammen mit ihm zurückbringen. Oder er konnte über die Mauer steigen, die hier doch so niedrig war, und zu ihr gelangen.
Er stieg den Hang hinauf. Es war leicht, es bereitete ihm keine Schwierigkeiten, er war fast schon da.
»Hara!«
Die tiefe Stimme des Gebieters ließ ihn zurückschnellen, wie eine Schlinge um den Hals, an der ruckartig gezogen wurde. Er taumelte, stolperte noch einen Schritt vorwärts, war fast schon an der Mauer, fiel auf die Knie, streckte die Hand nach den Steinen aus. Er weinte, schrie: »Rettet mich!« - aber an wen war sein Flehen gerichtet? An die Magier oder an die Schatten hinter der Mauer?
Dann waren plötzlich Hände auf seinen Schultern, lebendige Hände, stark und warm, und er war in seinem Zimmer, und die Hände des Heilers lagen in der Tat auf seinen Schultern, und das Werlicht brannte weiß rings um sie herum. Und es waren vier Männer bei ihm im Zimmer, nicht drei.
Der alte Meister der Kräuterkunde setzte sich zu ihm aufs Bett und redete eine Weile besänftigend auf ihn ein, denn er zitterte, schauderte, schluchzte. »Ich kann es nicht«, sagte er immer wieder, aber er wusste immer noch nicht, ob er dies zu den Magiern oder zu den Toten sprach.
Als die Angst und die Schmerzen nachließen, fühlte er sich unerträglich müde, und fast gleichgültig betrachtete er den Mann, der ins Zimmer gekommen war. Seine Augen hatten die Farbe von Eis, sein Haupthaar und seine Haut waren weiß. Einer aus dem hohen Norden, aus Enwas oder Bereswek, schätzte Erle.
Der Mann sagte zu den Magiern: »Was tut ihr, meine Freunde?«
»Wagnisse eingehen, Azver«, sagte der alte Kräuterheiler.
»Arget an der Grenze, Formgeber«, meinte der Gebieter.
Erle fühlte förmlich den Respekt, den sie diesem Mann entgegenbrachten, und ihre Erleichterung, dass er da war, als sie ihm in kurzen Worten schilderten, was das Problem war.
»Wenn er mit mir kommen will, werdet ihr ihn dann gehen lassen?«, fragte der Formgeber, als sie geendet hatten. Dann wandte er sich an Erle: »Im Immanenten Hain brauchst du dich vor deinen Träumen nicht zu fürchten. Und daher brauchen auch wir deine Träume nicht zu fürchten.«
Alle stimmten zu. Der Formgeber nickte und verschwand.
Weitere Kostenlose Bücher