Der Erdsee Zyklus Bd. 4 - Tehanu
Hauses meines Herrn gegraben.« Er zeigte zu dem Herrenhaus oben auf dem Berg.
»Ich verstehe«, sagte Gonthafen. »Ich hatte angenommen, unser Magier würde in der Stadt, die er vor dem Erdbeben gerettet hat, mit allen Ehren beigesetzt.«
»Mein Herr beansprucht die Ehre für sich«, sagte Re Albi.
»Aber es wäre …«, begann der Mann aus Gonthafen und unterbrach sich; er wollte nicht streiten, war aber nicht bereit, dem lässigen Anspruch des jungen Mannes nachzugeben. Er blickte zum Toten hinunter. »Er muß namenlos begraben werden«, sagte er bedauernd und bitter. »Ich bin die ganze Nacht über gegangen, aber zu spät gekommen. Ein großer Verlust ist noch größer geworden!«
Der junge Zauberer schwieg.
»Er hieß Aihal«, warf Tenar ein. »Es war sein Wunsch, hier zu liegen, wo er jetzt liegt.«
Beide Männer sahen sie an. Als der junge Mann eine Frau mittleren Alters aus dem Dorf sah, wandte er sich einfach ab. Der Mann aus Gonthafen musterte sie für einen Augenblick und fragte: »Wer bist du?«
»Ich werde Flints Witwe Goha genannt«, antwortete sie. »Es ist deine Aufgabe zu wissen, wer ich bin. Aber es ist nicht meine Aufgabe, es zu sagen.«
Jetzt würdigte der Zauberer von Re Albi sie eines kurzen Blicks. »Gib acht, Frau, wie du zu den Mächtigen sprichst.«
»Warte, warte«, mahnte Gonthafen mit einer Handbewegung, die Re Albis Empörung zu beschwichtigen versuchte, und sah Tenar immer noch an. »Du warst – du warst einmal seine Schülerin?«
»Und seine Freundin«, fügte Tenar hinzu. Dann wandte sie den Kopf ab und schwieg. Sie hatte den Zorn in der eigenen Stimme gehört, als sie das Wort ›Freundin‹ aussprach. Sie blickte zu ihrem Freund hinunter, ein für den Erdboden bereiter, empfindungsloser, regloser Leichnam. Sie standen lebend und voll Macht über ihm, boten keine Gegnerschaft an, nur Verachtung, Rivalität, Zorn.
»Entschuldigt«, sagte sie. »Es war eine lange Nacht. Ich war bei ihm, als er starb.«
»Es ist nicht …«, begann der junge Zauberer, aber die alte Moor unterbrach ihn unerwartet und erklärte laut: »Sie war es. Ja, sie war es. Niemand außer ihr. Er schickte nach ihr. Er schickte den jungen Townsend, den Schafhändler, um den ganzen Berg herum, damit er ihr sagte, sie solle kommen, und er wartete mit dem Sterben, bis sie kam und bei ihm war, dann starb er, und er starb dort, wo er begraben sein wollte, hier.«
»Und«, fragte der Ältere, »und er hat dir …?«
»Seinen Namen.« Tenar sah die Männer an, und wider Willen forderten die Ungläubigkeit auf dem Gesicht des Älteren, die Verachtung auf dem Gesicht des Jüngeren eine respektlose Antwort heraus. »Ich habe den Namen genannt«, stellte sie fest. »Muß ich ihn Euch wiederholen?«
Zu ihrer Bestürzung erkannte sie an dem Gesichtsausdruck der beiden, daß sie tatsächlich den Namen, Ogions wahren Namen, nicht gehört hatten; sie hatten ihr keine Beachtung geschenkt.
»Oh!« sagte sie. »Das ist eine böse Zeit – eine Zeit, da sogar ein solcher Name nicht gehört wird, da er wie ein Stein fallen kann! Ist Zuhören nicht Macht? Dann hört: Sein Name war Aihal. Sein Name im Tod ist Aihal. In den Liedern wird er als Aihal von Gont gerühmt werden. Wenn überhaupt noch Lieder erschaffen werden. Er war ein schweigsamer Mann. Jetzt ist er noch schweigsamer. Vielleicht wird es keine Lieder geben, nur Schweigen. Ich weiß es nicht. Jetzt bin ich sehr müde. Ich habe meinen Vater und lieben Freund verloren.« Die Stimme versagte ihr; ein Schluchzen schnürte ihr die Kehle zusammen. Sie drehte sich um und wollte gehen. Auf dem Waldweg sah sie das kleine Zauberbündel, das Tantchen Moor gefertigt hatte. Sie hob es auf, kniete neben der Leiche nieder, küßte die offene Handfläche der linken Hand und legte das Bündel hinein. Auf den Knien liegend blickte sie noch einmal zu den beiden Männern auf. Sie fragte ruhig:
»Werdet Ihr dafür sorgen, daß sein Grab hier, wo er es wünschte, ausgehoben wird?« fragte sie.
Zuerst nickte der Ältere, dann der Jüngere.
Sie erhob sich, strich sich den Rock glatt und schritt im Morgenlicht über die Wiese davon.
Kalessin
»WARTE«, HATTE OGION , der jetzt Aihal war, zu ihr gesagt, kurz bevor der Wind des Todes ihn geschüttelt und vom Leben losgerissen hatte. »Vorbei – alles verändert«, hatte er geflüstert, und dann: »Tenar, warte …« Aber er hatte nicht gesagt, worauf sie warten solle. Vielleicht auf die Veränderung, die er gesehen oder von der
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