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Der Erdsee Zyklus Bd. 4 - Tehanu

Der Erdsee Zyklus Bd. 4 - Tehanu

Titel: Der Erdsee Zyklus Bd. 4 - Tehanu Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ursula K. LeGuin
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Etwas Böses
    ALS DER BAUER FLINT aus dem Mitteltal starb, blieb seine Witwe im Haus zurück. Ihr Sohn fuhr zur See, und ihre Tochter hatte einen Kaufmann aus Thalmund geheiratet, also lebte sie allein auf dem Eichenhof. Die Leute behaupteten, daß sie in dem fremden Land, aus dem sie gekommen war, eine bedeutende Persönlichkeit gewesen sei, und der Magier Ogion pflegte tatsächlich vorbeizuschauen und sich mit ihr zu unterhalten; aber das hatte nicht viel zu bedeuten, denn Ogion besuchte alle möglichen Niemande.
    Sie trug einen fremdländischen Namen, aber Flint hatte sie Goha genannt, so nennt man auf Gont eine kleine, weiße, netzewebende Spinne. Der Name paßte gut zu Goha, denn sie war weißhäutig, klein und geschickt im Spinnen von Ziegen- und Schafwolle. Jetzt war sie also Flints Witwe Goha, besaß eine Schafherde und das erforderliche Weideland, vier Felder, einen Obstgarten mit Birnbäumen, zwei Pächterhäuschen, das steinerne alte Haus unter den Eichen und den Familienfriedhof jenseits des Hügels, auf dem Flint ruhte, Erde in seiner Erde.
    »Ich habe meistens in der Nähe von Grabsteinen gelebt«, sagte sie zu ihrer Tochter.
    »Komm schon, Mutter, wohn bei uns in der Stadt!« antwortete Mala, aber die Witwe wollte ihre Einsamkeit nicht verlassen.
    »Vielleicht später, wenn du Kinder hast und Hilfe brauchst«, meinte sie und betrachtete wohlgefällig ihre grauäugige Tochter. »Aber jetzt nicht. Du brauchst mich nicht. Und mir gefällt es hier.«
    Als Mala zu ihrem jungen Ehemann zurückgekehrt war, schloß die Witwe die Tür und blieb auf dem mit Steinplatten belegten Küchenboden des Hauses stehen. Es war dämmrig, aber sie zündete die Lampe nicht an, sondern dachte daran, wie ihr Mann die Lampe angezündet hatte: die Hände, der Funke, das aufmerksame dunkle Gesicht in der flackernden Helligkeit. Das Haus war still.
    Ich habe früher allein in einem schweigenden Haus gelebt, dachte sie. Ich werde es wieder tun. Sie zündete die Lampe an.
    An einem Spätnachmittag der ersten heißen Tage kam Lerche, die alte Freundin der Witwe, eilig die staubige Straße aus dem Dorf herauf. »Goha«, sagte sie, als sie die Freundin im Bohnenbeet jäten sah, »Goha, es geht um etwas Böses. Es ist etwas sehr Böses. Kannst du kommen?«
    »Ja«, antwortete die Witwe. »Was ist dieses Böse?«
    Lerche hielt den Atem an. Sie war eine reizlose schwere Frau in mittleren Jahren, deren Name nicht mehr zu ihrem Körper paßte. Aber früher war sie ein hübsches, zartes Mädchen gewesen und hatte sich mit Goha angefreundet, ohne die Dorfbewohner zu beachten, die über die kargische Hexe mit dem weißen Gesicht klatschten, die Flint mitgebracht hatte; und seither waren sie Freundinnen.
    »Ein verbranntes Kind«, antwortete sie.
    »Wessen Kind?«
    »Das Kind der Fahrenden.«
    Goha schloß die Tür des Hauses, und sie machten sich auf den Weg; Lerche sprach, während sie gingen. Sie war kurzatmig und schwitzte. Die winzigen Samen der schweren Gräser, die die Straße säumten, klebten ihr an Wangen und Stirn, und sie wischte sie beim Sprechen weg. »Sie haben den ganzen Monat über auf den Wiesen am Fluß gelagert. Ein Mann, der sich als Kesselflicker ausgibt, aber er ist ein Dieb, und er hat eine Frau bei sich. Und noch ein Mann, jünger, der sich die meiste Zeit bei ihnen herumtreibt. Keiner von ihnen arbeitet. Sie stehlen, betteln und leben von der Frau. Die Jungen von weiter unten am Fluß brachten ihnen Sachen vom Hof, um an die Frau heranzukommen. Du weißt, wie das jetzt ist. Auf den Straßen sind Banden unterwegs, die an den Höfen vorbeikommen. Wenn ich du wäre, hielte ich heutzutage meine Tür versperrt. Also der eine, der Jüngere, kommt ins Dorf, und ich stehe vor unserem Haus, und er sagt: ›Dem Kind geht es nicht gut.‹ Ich hatte das Kind kaum bei ihnen bemerkt, ein kleines Frettchen von einem Kind, es war so schnell verschwunden, daß ich nicht sicher war, ob es überhaupt vorhanden war. Deshalb fragte ich: ›Nicht gut? Ein Fieber?‹ Und der Kerl antwortet: ›Sie hat sich beim Feuermachen verbrannt‹. Bevor ich mich fertiggemacht hatte, um ihn zu begleiten, war er fort. Weg. Als ich hinaus zum Fluß kam, war auch das Paar fort. Verschwunden. Niemand da. Ihre Fallen und der Plunder waren ebenfalls weg. Nur ihr Lagerfeuer war noch da, es schwelte noch, und neben ihm – zum Teil in ihm – auf dem Boden …«
    Lerche sprach einige Schritte lang nicht. Sie blickte geradeaus vor sich hin und sah Goha nicht

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