Der Erdsee Zyklus Bd. 4 - Tehanu
sorgfältig auf, zog die schwarzen Hinterbacken an wie eine Katze und sprang. Die geäderten Flügel schossen leuchtendrot im jungen Licht empor, der gespornte Schwanz klirrte zischend auf den Fels, und er flog, war fort – eine Möwe, eine Schwalbe, ein Gedanke.
Wo er gewesen war, lagen versengte Fetzen aus Stoff und Leder und anderes Zeug.
»Gehen wir«, sagte Ged.
Aber die Frau und das Kind blieben stehen und betrachteten dieses Zeug.
»Es sind beinerne Menschen«, stellte Therru fest. Dann wandte sie sich ab und ging los. Sie lief vor der Frau und dem Mann den schmalen Weg entlang.
»Ihre ursprüngliche Sprache«, sagte Ged. »Ihre Muttersprache.«
»Tehanu«, sagte Tenar. »Sie heißt Tehanu.«
»Sie hat ihn vom Geber der Namen erhalten.«
»Sie ist von Anfang an Tehanu gewesen. Sie ist immer Tehanu gewesen.«
»Kommt jetzt«, sagte das Kind, das zurückblickte. »Tantchen Moor ist krank.«
Sie schafften es, die Alte hinaus ins Licht und an die Luft zu tragen, ihre Schwären zu waschen und die stinkenden Bettlaken zu verbrennen, während Therru sauberes Bettzeug aus Ogions Haus holte. Sie brachte auch Heide mit, die Ziegenhirtin. Mit Heides Hilfe machten sie es der alten Frau mit den Hühnern in ihrem Bett bequem; Heide versprach, mit etwas Eßbarem zurückzukommen.
»Jemand muß nach Gonthafen hinuntergehen«, sagte Ged, »um den dortigen Zauberer zu holen. Er soll sich um sie kümmern; sie kann geheilt werden. Er soll auch zum Herrenhaus gehen. Der alte Mann wird jetzt sterben. Der Enkel könnte leben, wenn das Haus gereinigt wird …« Er setzte sich im Sonnenschein auf die Türstufe vor das Haus, lehnte den Kopf gegen den Türrahmen und schloß die Augen. »Warum tun wir, was wir tun?« fragte er.
Tenar wusch Gesicht, Hände und Arme in einer Schüssel mit reinem Wasser, das sie von der Pumpe geholt hatte. Als sie fertig war, sah sie sich um. Ged war vollkommen erschöpft eingeschlafen, sein Gesicht war im Morgenlicht leicht nach oben gewendet. Sie setzte sich neben ihm auf die Stufe und lehnte den Kopf an seine Schulter. Sind wir verschont worden? dachte sie. Wie kommt es, daß wir verschont wurden?
Sie blickte auf Geds Hand hinunter, die entspannt und offen auf der Stufe aus Erde lag. Sie dachte an die Distel, die im Wind nickte, und an den klauenbewehrten Fuß des Drachen mit den roten und goldenen Schuppen. Als das Kind sich neben sie setzte, schlief sie halb.
»Tehanu«, murmelte sie.
»Der kleine Baum ist gestorben«, sagte das Kind.
Nach einer Weile verstand Tenars müder, schläfriger Geist und wachte so weit auf, daß er antworten konnte. »Hängen auf dem alten Baum Pfirsiche?«
Sie sprach leise, um den Schlafenden nicht zu wekken.
»Nur kleine grüne.«
»Nach dem Langen Tanz werden sie reifen. Bald.«
»Können wir einen pflanzen?«
»Mehr als einen, wenn du willst. Ist das Haus in Ordnung?«
»Es steht leer.«
»Sollen wir hier leben?« Sie richtete sich ein wenig auf und legte den Arm um das Kind. »Ich habe genügend Geld, um eine Ziegenherde zu kaufen und dazu Sturms Winterweide, wenn sie noch zu haben ist. Ged weiß, wo man sie im Sommer auf den Berg bringen muß … Ob die Wolle, die wir gekämmt haben, noch hier ist?« Während sie es aussprach, dachte sie: Wir haben die Bücher zurückgelassen, Ogions Bücher! Auf dem Kaminsims des Eichenhofs – für Funke, den armen Jungen, der kein Wort davon lesen kann.
Aber es schien keine Rolle zu spielen. Sie mußten zweifellos neue Dinge lernen. Sie konnte jemanden nach den Büchern schicken, falls Ged sie haben wollte. Und nach ihrem Spinnrad. Oder sie konnte im Herbst selbst hinuntergehen, mit ihrem Sohn sprechen, Lerche besuchen und bei Mala wohnen. Wenn sie in diesem Sommer eigenes Gemüse wollten, mußten sie Ogions Garten sofort frisch bepflanzen. Sie dachte an die Reihen von Bohnen und an den Duft der Bohnenblüten. Sie dachte an das kleine, nach Westen zeigende Fenster. »Ich glaube, daß wir hier leben können«, sagte sie.
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