Der Erdsse Zyklus 05 - Rueckkehr nach Erdsee
wollte.
Sie war jünger gewesen als dieses Mädchen, als sie mit dem Ring nach Havnor gekommen war. Aber sie war nicht ohne Macht aufgewachsen wie die Prinzessin. Doch obwohl ihre Macht als die der Einen Priesterin größtenteils eine förmliche, nominelle gewesen war, hatte sie ihr Schicksal in die eigene Hand genommen, als sie mit den grausamen Methoden ihrer Erziehung gebrochen und Freiheit für ihren Gefangenen und sich selbst erlangt hatte. Die Tochter eines Kriegsherrn jedoch würde allenfalls über belanglose Dinge Macht und Kontrolle besitzen. Wenn ihr Vater sich zum König ernannte, würde sie Prinzessin genannt werden; sie würde edlere Kleidung bekommen, mehr Sklaven, mehr Schmuck, und schließlich würde sie einem Mann in die Ehe gegeben werden. Aber bei alldem würde sie keine Mitsprache haben. Alles, was sie jemals außerhalb des Frauenquartiers von der Welt mitbekäme, würde sie durch Fensterschlitze in dicken Mauern und durch dichte, fast undurchdringliche rote Schleier sehen.
Tenar schätzte sich glücklich, nicht auf einer so rückständigen und barbarischen Insel wie Hur-at-Hur geboren zu sein und niemals den Feyag getragen zu haben. Aber sie wusste, wie es war, im Griff einer eisernen Tradition aufzuwachsen. Es gehörte sich für sie, sich für die Prinzessin einzusetzen und für sie zu tun, was sie konnte, solange sie in Havnor weilte. Aber sie hatte nicht vor, lange hier zu bleiben.
Während sie so durch den Garten schlenderte und die im Sternenschein glitzernden Springbrunnen betrachtete, dachte sie darüber nach, wie und wann sie wieder nach Hause fahren konnte.
Die Förmlichkeiten des höfischen Lebens machten ihr nichts aus, ebenso wenig das Wissen, dass unter der dünnen Schicht aus Höflichkeit ein Gebräu aus Ehrgeiz, Begehrlichkeit, Rivalität, Leidenschaft, Intrige und Kabale brodelte. Sie war mit Ritualen, mit Heuchelei und Politik im Verborgenen groß geworden, und nichts davon machte ihr Angst oder Sorge. Sie hatte schlicht und einfach Heimweh. Sie wollte zurück nach Gont, zu Ged, in ihr gemeinsames Haus.
Sie war nach Havnor gekommen, weil Lebannen nach ihr und Tehanu geschickt hatte - und Ged, falls er wolle; aber Ged hatte nicht mitkommen wollen, und Tehanu hatte nicht ohne sie fahren wollen. Das bereitete ihr in der Tat Sorgen. Vermochte ihre Tochter sich nicht von ihr zu lösen? Tehanus Rat war es, den Lebannen brauchte, und nicht ihren. Aber ihre Tochter hing an ihr, und sie fühlte sich ebenso unbehaglich, ebenso deplatziert am Hofe zu Havnor wie das Mädchen von Hur-at-Hur und hielt sich schweigend - wie dieses - versteckt.
Also musste Tenar jetzt für beide Kindermädchen, Lehrerin und Kameradin spielen - zwei ängstliche Mädchen, die nicht wussten, wie sie ihre Macht fassen sollten, während sie, Tenar, keine Macht auf Erden wollte, sondern nur die Freiheit, nach Hause fahren zu können, wo sie hingehörte, und Ged im Garten zur Hand zu gehen.
Sie wünschte, sie könnten dort, in ihrem Garten, solche wunderschönen weißen Rosen anpflanzen, wie hier wuchsen. Ihr Duft war so betörend in der Nachtluft. Aber es war zu windig dort oben, und im Sommer brannte die Sonne zu heiß. Und wahrscheinlich würden die Ziegen die Rosen fressen.
Schließlich begab sie sich wieder in den Palast und ging durch den Ostflügel zu der Zimmerflucht, die sie mit Tehanu teilte. Ihre Tochter schlief schon, es war spät. Eine Flamme, nicht größer als eine Perle, brannte auf dem Docht einer winzigen Alabasterlampe. Die hohen Räume waren dämmrig, still. Sie blies die Lampe aus, ging ins Bett und glitt bald in den Schlaf hinüber.
Sie ging durch einen schmalen steinernen Gang mit einer hohen, gewölbten Decke. Sie trug die Alabasterlampe. Ihr schwaches Lichtoval verschwand vor und hinter ihr in der Dunkelheit. Sie kam an die Tür eines Raumes, der seitlich des Ganges lag. Darinnen waren Menschen mit Vogelschwingen. Einige hatten die Köpfe von Vögeln, Habichten und Geiern. Sie standen oder hockten reglos da, weder sie noch irgendetwas anderes anschauend, die Augen weiß und rot gerändert. Ihre Schwingen waren wie riesige schwarze Umhänge, die schlaff an ihnen herunterhingen. Sie wusste, dass sie nicht fliegen konnten. Sie waren so kummervoll, so hoffnungslos, und die Luft in dem Raum war so übel riechend, dass sie umkehren und weglaufen wollte.
Aber sie konnte sich nicht bewegen. Und während sie gegen diese Lähmung ankämpfte, wachte sie auf.
Alles war wie vorher: die warmen
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