Die Sturmrufer
Dantar
D er Sturm überraschte Amber mitten auf dem Seilermarkt. Es war der vierte, seitdem sie nach der Sommerernte nach Dantar aufgebrochen war, aber der erste, den sie mitten in der Stadt erlebte. Von den Anhöhen aus betrachtet hatte jedes Unwetter wie ein faszinierendes Schauspiel gewirkt: schäumendes Wasser in erstaunlichen Farben und die weißen Häuser der Stadt am Ufer. Die Stadt hatte die Form einer Hand – fünf Landzungen ragten in das Majumameer hinein, und wenn die Schiffe, die in den Häfen spielzeugklein wirkten, im Sturmwind tanzten, sah es so aus, als würde die weiße Hand mit ihnen spielen.
Doch jetzt, mitten in Dantar, auf selber Höhe mit dem Meer, war die Sache nicht mehr ganz so malerisch. Amber wurde klar, dass sie tatsächlich zum ersten Mal in ihrem Leben einen solchen Sturm nicht auf den Anhöhen der Berge erlebte. Hier schützten sie keine Steinmauern und keine Höhlenkammern vor den Wellen. Noch beunruhigender war, dass das Unwetter diesmal ohne Vorwarnung hereinbrach. Von einem Augenblick zum nächsten war der Himmel so schwarz geworden, dass die Vögel auf den Häuserdächern verstummten. Die Seiler blickten erschrocken in den Himmel und begannen in Windeseile ihr Werkzeug zusammenzupacken. Alle Leute auf dem Markt kamen in Bewegung, Fensterläden wurden zugeschlagen, Eltern holten ihre Kinder von den Straßen. Und die Kapitäne, das wusste Amber, begannen in diesem Augenblick zu beten.
Sie drückte den Beutel mit den eben gekauften Seilen an sich, drehte sich um und rannte auf gut Glück auf die nächstbeste Seitengasse zu. Schwer schlug der Beutel mit den Münzen gegen ihre Hüfte.
»Halt!«, ertönte hinter ihr plötzlich eine Stimme. »Was willst du denn in der toten Gasse? Bist du verrückt?«
Als sie sich umsah, erkannte sie einen der jungen Seiler, der eben noch an einem Ankertau gearbeitet hatte. Wie alle Seiler trug auch dieser kompliziert geflochtene Zöpfe. Im Sturm tanzten sie nun wie Schlangen um seinen Kopf und auf den Schultern. Ein Windstoß riss die Worte von seinen Lippen. »… zu spät… komm… Keller…«, war alles, was Amber noch verstand. Es war nicht mehr so einfach, sich gegen den Wind zu stemmen. Er trieb sie vor sich hin wie ein Spielzeug, während sie auf die ausgestreckte Hand zutaumelte. Vom Hafen her hörte man das Ächzen von sich biegendem Holz. Amber duckte sich, erreichte endlich den Seiler und ergriff seine Rechte. Hand in Hand kämpften sie sich über den kreisrunden Platz.
»Da runter!« Sie erahnte die Worte eher, als dass sie sie hörte, aber sie verstand, als er auf eine hölzerne Klappe im Boden deutete. Wenige Augenblicke später saßen sie aneinandergekauert in einem engen Lagerkeller, in dem es nach ranzigem Stockfisch roch, während die verriegelte Lukentür über ihnen klapperte, als würde jemand mit aller Gewalt daran rütteln. Draußen regneten Dachschindeln auf den Markt.
Bitte lass kein Haus einstürzen, betete Amber im Stillen. Und schon gar nicht die Herberge!
Obwohl es stockdunkel war, schloss sie die Augen und stellte sich vor, was in Ujas Herberge nun mit ihren Sachen geschah. Wenn das Gebäude einstürzte – wo würde sie dann ihre Decke wiederfinden? Sie war nicht wertvoll, aber eines der wenigen Dinge, die sie aus ihrem alten Leben mitgenommen hatte. Außerdem lagen in der verschlossenen Kammer, über deren Schlüssel die alte Wirtin besser wachte als ein verrückter Hofhund, Ambers Kleider, in denen sie in die Stadt gekommen war. Was sie nun am Leib trug, war ein orangefarbenes Tuch über langen Leinenhosen. Dantarianische Kleidung, die sie sich erst heute auf dem Kleidermarkt gekauft hatte. Sie wollte so aussehen wie eine richtige Dantarianerin, aber dennoch – der Gedanke daran, ihre abgeschabte Ziegeniederweste und das grobe Hemd zu verlieren, rief ein banges Gefühl des Verlusts hervor. Hektisch tastete sie nach ihrem Gürtel – Krutin sei Dank, wenigstens die Börse war noch da! Ein Poltern und ein donnernder Hall rissen sie aus ihren Gedanken. Erschrocken krampfte sie die Linke um den ledernen Beutel mit den Münzen und bemerkte im selben Augenblick, dass sie mit der anderen Hand immer noch die Finger des Seilers umklammert hielt. Verlegen wollte sie ihm ihre Hand entziehen, aber der Seiler dachte gar nicht daran loszulassen.
»Du bist ganz schön kräftig. Gehörst du zu den Snaifischern? Oder den Bootsbauern?«
Amber entzog ihm die Hand und rückte von ihm ab. »Nein. Ich… komme nicht aus der
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