Der Erl�ser
Dauerlächeln, mit dem manche Menschen sowohl gute als auch schlechte Nachrichten entgegennehmen.
»Wer sind Sie?«, fragte die Frau.
»Jon Karlsen. « Und als er sah, dass die blauen Augen der Frau einen noch härteren Ausdruck bekamen, fügte er hinzu: »Ich bin der Bruder von Robert.«
»Tut mir leid«, sagte die Frau ausdruckslos, trat über die Schwelle und reichte ihm die Hand. »Toril Li, Morddezernat.« Ihre Hand war knochig, aber warm. »Das ist Kommissar Ola Li. «
Der Mann nickte und Jon erwiderte den Gruß.
»Wir bedauern, was geschehen ist«, sagte die Frau, »aber da es sich um Mord handelt, müssen wir diesen Raum leider versiegeln.«
Jon nickte wieder, während sein Blick zurück zu dem Bild an der Wand huschte.
»Und deshalb müssen wir Sie zu unserem Bedauern bitten «»Äh ja, natürlich«, sagte Jon, »ich war mit den Gedanken ganz woanders.«
»Das ist vollkommen verständlich«, antwortete Toril Li mit einem Lächeln. Keinem breiten, herzlichen Lächeln, sondern einem kleinen, freundlichen, das der Situation angemessen war. Jon nahm an, dass Polizisten, die mit Mord und Ähnlichem zu tun hatten, Erfahrung mit solchen Situationen haben mussten. Genau wie ein Pastor. Wie sein Vater.
»Haben Sie etwas angefasst?«, fragte sie.
»Angefasst? Nein, warum sollte ich das? Ich habe nur hier auf diesem Stuhl gesessen.«
Jon stand auf und zog ohne nachzudenken das Taschenmesser aus der Tischplatte, klappte es zusammen und steckte es in die Tasche.
»Bitte«, sagte er und verließ das Zimmer. Die Tür wurde leise hinter ihm geschlossen. Er war bereits an der Treppe, als ihm bewusst wurde, wie idiotisch es war, mit dem Taschenmesser abzuhauen, und so drehte er sich um, um es zurückzugeben. Vor der geschlossenen Tür blieb er stehen und hörte von drinnen das Lachen der Frau: »Mein Gott, wie ich erschrocken bin! Der gleicht seinem Bruder ja aufs Haar, ich dachte erst, ich hätte einen Geist vor mir.«
»Ich finde, er sieht ihm überhaupt nicht ähnlich«, sagte der Mann.
»Ja, weil du nur dieses eine Bild von ihm gesehen hast.« Jon kam ein fürchterlicher Gedanke.
*
SK-655 nach Zagreb hob planmäßig um 10.40 Uhr vom Osloer Flughafen ab und beschrieb einen Bogen nach links über den Huldrasjøen, ehe es einen südlichen Kurs in Richtung Flugleitstelle Aalborg einschlug. Infolge des ungewöhnlich kalten Tages war die Luftschicht, die man als Tropopause bezeichnet, so tief herabgesunken, dass die MD-81 Maschine sie bereits im Steigflug über dem Stadtzentrum von Oslo durchflog. Und da Flugzeuge nur in der Tropopause Kondensstreifen an den Himmel zeichnen, hätte er – wenn er nach oben geschaut hätte, als er schlotternd an der Telefonzelleam Bahnhof stand – das Flugzeug gesehen, für das er ein Ticket hatte, es steckte in der Tasche seines Kamelhaarmantels.
Er hatte seine Reisetasche in einem der Schließfächer am Bahnhof eingeschlossen. Er brauchte ein Hotelzimmer. Und er musste seinen Job erledigen. Und das bedeutete, dass er eine Waffe brauchte. Aber wie bekam man eine Waffe in einer Stadt, in der man nicht einen einzigen Kontakt hatte?
Er lauschte der Stimme der Frau von der Telefonauskunft, die ihm mit dem singenden Englisch der Skandinavier erklärte, dass sie in Oslo siebzehn Einträge unter dem Namen Jon Karlsen habe, ihm leider aber nicht die Adresse von allen geben könne. Hingegen gebe sie ihm gern die Nummer der Heilsarmee.
Die Frau in der Zentrale der Heilsarmee sagte, dass sie nur einen Jon Karlsen hätten, der aber frei habe. Er erklärte ihr, er wolle ein Weihnachtspäckchen schicken, und fragte nach der Privatadresse.
»Sehen wir mal nach. Gøteborggata 4, Postleitzahl 0566. Schön, dass jemand an diesen armen Mann denkt.«
»Armen Mann?«
»Ja doch, der Mann, der da gestern erschossen worden ist, war sein Bruder.«
»Sein Bruder?«
»Ja, auf dem Egertorg. Die Zeitungen sind doch voll davon.« Er dankte ihr für die Hilfe und legte auf.
Jemand tippte ihm auf die Schulter und er wirbelte herum.
Es war der Pappbecher, der ihm klarmachte, was der junge Mann für Absichten hatte. Die Jeansjacke war zwar etwas schmutzig, aber er hatte einen modernen Haarschnitt, war frisch rasiert, trug solide Kleider und hatte einen offenen, wachen Blick. Der junge Mann sagte etwas, und als er mit den Schultern zuckte, um ihm zu signalisieren, dass er kein Norwegisch sprach, wechselte er in perfektes Englisch:
»I’m Kristoffer. I need money for a room tonight. Or else
Weitere Kostenlose Bücher