Der Fälscher: Kriminalroman (German Edition)
tragen mussten?«
Stave schweigt.
»Viele Juden sind von diesem Zeitpunkt an ins Konzentrationslager verschleppt worden«, erzählt der Bankier mit tonloser Stimme. »Herr Rosenthal hat in einer Herbstnacht 41 bei mir an die Tür gehämmert. Er war aus seiner Wohnung geflohen und in großer Sorge. Ich auch, wie Sie sich denken können. Ich habe jedoch nicht gewagt, ihn bei mir zu behalten. Was, wenn die Gestapo ihn entdeckt hätte? Wir sind kurz vor Morgengrauen von meiner Villa bis zum Reimershof gefahren. Dort hat Herr Rosenthal«, er sucht nach dem richtigen Wort, »sich dann eingerichtet.«
»Er ist untergetaucht?«
»So kann man das wohl nennen. Ich habe ihn mit Lebensmitteln versorgt, mit Kleidung, mit Zeitungen. Nicht, dass er deren Schlagzeilen gerne gelesen hätte.«
»Wer wusste davon?«
»Niemand. Die Verwandten von Herrn Rosenthal ahnten nichts, weil ich nie gewagt habe, mit der Familie Kontakt aufzunehmen. Die Angst vor der Gestapo, Sie verstehen das sicher. Kein Mitarbeiter wusste etwas, weil man sich ja nie sicher sein konnte, ob nicht doch ein Spitzel im Haus war. Die Reinmachefrau schaute einmal in der Woche in den Räumen vorbei, doch sie kam immer zur gleichen Zeit – Herr Rosenthal hat sich dann jedes Mal im Heizungskeller versteckt. Ich schaute ab und zu im Reimershof vorbei. Das fiel niemandem auf, denn ich hatte dort ja schon lange mein Büro.«
»Warum musste Rosenthal dann sterben?«
Schramm schließt für einen Moment die Augen. Zu kurz, als dass Stave hätte heranspringen können. »Weil ich den Kopf verloren habe. Beim ersten Nachtangriff im Juni 1943 regneten Brandbomben auf den Reimershof. Der Dachstuhl fing Feuer, auch die oberen Etagen. Das Gebäude war beschädigt – aber es war noch nicht so zerstört, wie Sie es jetzt hier unter uns sehen. Ich bin am nächsten Morgen dorthin geeilt. Einer meiner beiden Büroräume war verschwunden, mit ihm die Kunstwerke. Verborgen irgendwo unter Tonnen von Schutt. Der andere Raum war zur Hälfte zerstört, aufgerissen wie ein Pappkarton. Dort kauerte Herr Rosenthal, halb wahnsinnig vor Angst, weil er die Nacht praktisch hilflos im Kontorhaus verbringen musste. Das hatte ja keinen Schutzraum. Stellen Sie sich das vor: allein in einem riesigen Gebäude. Die Bomben. Brände überall. Er war mit seinen Nerven am Ende.«
»Hat er Sie angegriffen?«
»Nicht mit seinen Fäusten.« Schramm schließt in der Erinnerung erneut die Augen. Er schwankt. Stave wagt sich nur noch um Zentimeter näher heran. »Er stürzte auf mich zu, sobald er mich sah. ›Sie müssen mich fortschaffen, Herr Direktor!‹, schrie er. Ganz laut, immer wieder. Ich bekam es mit der Angst zu tun. Wenn uns jemand bemerkte? Außerdem wusste ich nicht, wo ich Rosenthal verstecken sollte. Ich hatte nicht einmal eine Vorstellung davon, wie ich ihn ungesehen aus dem Reimershof hätte hinausschmuggeln sollen. Nach den Angriffen war die Stadt doch immer voll: Polizei, Feuerwehrleute, Luftschutzwarte, Ausgebombte. Da hätte ich nicht einfach mit einem Juden vorbeispazieren können.«
Stave erinnert sich an das Durcheinander nach den Bombennächten. An die Feuer und die Überlebenden, die wie betäubt durch qualmende Ruinen taumeln, an Blindgänger, Plünderer, an den widerlichen Gestank nach verbranntem Fleisch und aufgesprengten Abwasserkanälen.
»Ich versuchte, ihn zu beruhigen. Aber es war, als hörte er mich gar nicht. Und dann, ganz plötzlich, wurde er irgendwie anders. Das hat mich noch viel mehr erschreckt. Rosenthal, der sonst immer sehr zurückhaltend war, ist trotz seines Klumpfußes durch das verwüstete Büro geeilt und hat einen Packen Briefbögen aus einem Schreibtisch geholt. Das Papier war angesengt, aber der Kopf war noch klar zu lesen. Mein Name, meine Adresse. ›Darauf werde ich Anzeige erstatten!‹, hat Rosenthal immer wieder geschrien. ›Ich schreibe der Gestapo und verrate ihr, dass Sie ‚entartete Kunst‘ horten, wenn Sie mich nicht sofort irgendwo verstecken!‹ Er war wahnsinnig vor Angst. Blind, in gewisser Weise. Leider habe auch ich keinen kühlen Kopf behalten. Plötzlich war meine Panik genauso groß wie seine. Der zeigt mich tatsächlich an, die Gestapo bricht mir die Knochen, das dachte ich. Ich wollte Rosenthal zur Vernunft bringen, wollte, dass er wenigstens aufhört, wie ein Wahnsinniger in der Ruine herumzubrüllen – mit all den Leuten auf der Straße, nur ein paar Meter weg. Da hob ich meinen Stock und schlug zu. Einmal. Ich wollte ihn
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