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Der Fälscher: Kriminalroman (German Edition)

Der Fälscher: Kriminalroman (German Edition)

Titel: Der Fälscher: Kriminalroman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Cay Rademacher
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Kirchenschiff. Nichts. Verwirrt blickt er sich um. Die Reste des Chores zu seiner Rechten, zehn Meter aufragende Mauern, die wie ein Schiffsbug zusammenlaufen, dazwischen Schutt. Ein gotisches Portal, das ins Nichts führt. Vor ihm eine zersprengte Seitenwand, dahinter die ausgeweideten Ruinen weiterer Kontorhäuser. Eine Bewegung zur Linken. Nicht neben ihm. Über ihm.
    Der aufgerissene, brandvernarbte Turm der Nikolaikirche. Zwei Wände fortgesprengt, Etagenböden, rissige Innenmauern, halb zerschmetterte steinerne Treppen stehen wie entblößte Wirbel eines gigantischen Rückgrats in der grauen Luft. Seit 1943 darf niemand mehr diese instabile, gefährlich himmelstürmende Ruine betreten.
    Schramms Gestalt auf den schiefen Treppenstufen. Rasch steigt er hoch, scheinbar unbeirrt von dem Abgrund zu seinen Füßen.
    Stave hastet in den aufgesprengten Stumpf des Turmes und sucht den Aufgang der Treppe.

Der Himmel über Hamburg
    Die Steine im Turmsockel sind von alten Bränden rot gefärbt. Auf den Stufen glänzt eine schmierige, schwarze Dreckschicht. Taubenfedern. Der scharfe Gestank nach Kot und Zement. Stave sprintet die Treppe hoch, zwei Stufen auf einmal. Der erste Absatz. Er prallt zurück. Luft. Eine Windböe zerrt an seinem Mantel, er wagt kaum hinunterzublicken. Keine Wand, kein Geländer. Reiß dich zusammen, das sind noch nicht einmal zehn Meter. Weiter!
    Er nimmt die Stufen nun langsamer, versucht, starr nach unten zu blicken. Schramm kann ihm ja nicht weglaufen. Was will der Kerl da oben? Regen an der Schulter. Irgendwann hält er inne. Das Maßwerk eines zersprengten Fensters neben ihm, filigran gemeißelte Steinbögen und Rosetten. Wenn ich dagegenfalle, werden sie nachgeben und mich in die Tiefe stürzen lassen, denkt der Kripo-Mann. Er glaubt, irgendwo über sich den schweren Atem des Bankiers zu hören, aber vielleicht ist das Einbildung. Der Wind pfeift im Gemäuer, die Böen werden stärker. Wie hoch? Zwanzig Meter? Dreißig? Weiter.
    Zerbeulte Glocken in einem hölzernen Rahmen. Die grünspanüberzogenen Bronzegehäuse zittern im Wind, ein Balken ächzt. Sein Fußgelenk pocht bei jedem Schritt. Die Rechte schmerzt, weil er immer noch den Ziegelbrocken umklammert hält. Schmerzen in der Schusswunde, als würde jemand mit einer Nadel seine Lunge perforieren. Er zittert, denn sein Körper ist nass vom Regen und vom Schweiß. Mindestens fünfzig Meter. Er fragt sich, woher der alte Bankier die Kraft nimmt, in einem solchen Tempo himmelan zu stürmen. Weiter.
    Der letzte Absatz. Sechsundsiebzig Meter. Nicht nach unten blicken. Das Gefühl, dass der Kirchturm schwankt. Nur eine Illusion, sagt er sich, das kann bloß eine Illusion sein. Doch er spürt das Zittern der Stufen, das sogar durch die Sohlen der Schuhe dringt. Der Wind heult im Maßwerk wie ein Orgelton.
    Stave tritt behutsam auf eine halb zerschmetterte Etage unterhalb der spitz zulaufenden Turmspitze. Eine schwarz verbrannte gotische Dämonenfigur auf der Spitze einer Mauerecke, die Fratze blickt auf die Stadt. Weit unten die aufgerissenen Häuser: Mauerstümpfe, Fensterhöhlen, Brandspuren. Grauer Himmel, schwarze, niedrige Wolken, Regenschleier. Die Spukfigur starrt höhnisch auf die apokalyptische Landschaft, als hätte ihr Fluch diese Zerstörung heraufbeschworen. Der böse Blick, denkt Stave. Abrupt hält er inne.
    Schramm steht am gegenüberliegenden Ende der verwüsteten Etage, mit dem Rücken zu ihm. Von dort öffnet sich der Abgrund zur Brücke – und zum Reimershof, der von hier oben aussieht wie ein eingeschlagenes Puppenhaus. Der Bankier starrt hinunter, die Spitzen seiner Schuhe berühren fast den Rand des bröckeligen Bodens, dahinter ist das Nichts.
    Der Oberinspektor weiß nicht, was er tun soll. Er zwingt seinen Atem zu einem ruhigeren Rhythmus und beobachtet den anderen. Lange verharrt Schramm fast unbeweglich am Abgrund. Er schwankt ganz leicht. Schließlich hebt er die Rechte – und entlässt die obere Hälfte des schwarzen Kopfes in die Tiefe. Ein, zwei Sekunden lang fällt das Fragment des alten Kunstwerks nach unten, ein dunkler Fleck in der Luft. Dann zerplatzt es auf einem schmalen Bodenstreifen zwischen Kirchturm und einer Ruine. Wie eine Bombe, fährt es Stave durch den Kopf, nur steht er so hoch, dass er keinen Ton davon hört.
    Und dann begreift er endlich, was Schramm hier hochgetrieben hat.
    Der Oberinspektor tritt vor. »Tun Sie es nicht!«, ruft er.
    Schramm fährt herum, so erschrocken, dass er in seiner

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