Der Fälscher: Kriminalroman (German Edition)
schüttelt ungläubig den Kopf und wirft ihm einen Stapel Papiere zu. »Lesen Sie!«
Stave nimmt den obersten Zettel, ein liniertes Blatt, offenbar aus einem Schulheft herausgerissen, darauf in schwarzer Tinte und in ungelenken Buchstaben: Hiermit gebe ich Ihnen bekannt, dass der Fuhrunternehmer Kröger Straße 102 an der Kieler Straße, auf seinem Hof eine große Menge Hafer gelagert hatt. Ein Teil davon von Ungeziefer schon umgekommen ist, die Not ist so groß warum solche Zustände? Das Auto was Herr Kröger besitzt wird nur für Schwarzfahrten benutzt, dafür erhält Herr Kröger Brennstoff geliefert. Jetzt wird Nutz. u. Bauholz gefahren auf seinen Hof als Brennholz hunderte Meter.
»Was will uns der Dichter damit sagen?«, murmelt Stave.
»Dass er im Deutschunterricht nicht aufgepasst hat.« Bahr deutet verächtlich auf den Packen Papiere. »Denunzianten! So etwas segelt uns hier jeden Tag rein. Früher haben wir das meiste ignoriert und uns auf die dicken Fische konzentriert. Jetzt kümmern wir uns um diesen Dreck. Kollege, wir arbeiten hier die reguläre 56-Stunden-Woche, keine Überstunden wie in der Mordkommission, das verspreche ich Ihnen. Aber diese 56 Stunden können ziemlich zäh dahinfließen.«
»Kann ich mir ein Büro aussuchen, oder weisen Sie mir eines zu?«
»Gehen Sie nach nebenan. Schöner Blick über den Karl-Muck-Platz, viel Sonne, das Fenster schließt dicht. Wichtig im Winter – falls wir nächsten Winter noch hier sind. Eine eigene Sekretärin bekommen Sie aber nicht.«
»Ich werde mich daran gewöhnen.«
»Noch etwas: Wollen Sie heute erst einmal Ihre Sachen im Büro verstauen und sich einrichten? Oder wollen Sie schon einen Fall übernehmen?«
»Verdorbener Hafer an der Kieler Straße?«
»Nein. Kunstwerke in einem Trümmergrundstück. Hehlerware vielleicht, vielleicht auch Vorkriegszeug. Keine Abteilung will sich darum kümmern, also landet es beim Chefamt S.«
»Klingt interessanter, als mein Büro einzurichten. Das hat Zeit. Und viel Arbeit macht es sowieso nicht.« Der Oberinspektor deutet auf seine Aktentasche.
»Gut. Ziehen Sie los: Kontorhaus Reimershof an der Reimersbrücke. Gegenüber der Ruine von Sankt Nikolai. Die Schupos sind schon da. Ich organisiere Ihnen einen Wagen. Scheint so, als gebe es dort zeitgleich einen zweiten Fall, den ein Kollege der Mordkommission bearbeitet. Hat wohl nichts mit unserer Sache zu tun.«
»Welcher Kollege?«
»Oberinspektor Dönnecke.«
»Verdammter Mist.«
»Ich sagte es Ihnen ja: Wir stehen hier nicht auf der Gewinnerseite.«
Die grauschwarze Wolkendecke hängt so niedrig am Himmel, als könnte sie sich jeden Moment auf die Ruinen legen. Feiner Regen wirbelt im Wind, ein Vorbote stärkerer Güsse. Stave schlägt den Mantelkragen hoch, obwohl er nur wenige Schritte von der Zentrale zu einem auf dem Platz parkenden Peterwagen laufen muss. Der Radiwa – Radiostreifenwagen – ist ein kastenförmiger, alter Mercedes Benz, ein ehemaliger Sanitätswagen der Wehrmacht, mit dem nun die Kollegen der Revierwache 66 an der Lübecker Straße durch Hamburg patrouillieren. Der Oberinspektor fragt sich flüchtig, warum Bahr ausgerechnet dieses Auto organisieren konnte. Vielleicht hat er mal auf diesem Revier gearbeitet. Er nickt dem älteren, müden Schupo hinter dem Steuer zu.
»Zum Reimershof am …«
»Weiß ich schon. Achtung mit der Beifahrertür, die springt manchmal während der Fahrt auf.«
Bilde ich mir das ein?, fragt sich der Kripo-Beamte. Kaum bin ich nicht mehr bei der Mordkommission, schon behandeln mich die uniformierten Kollegen weniger respektvoll.
Ein kurzer Weg, Stave wäre ihn gerne zu Fuß gegangen, trotz des miesen Wetters. Doch er wollte Bahr nicht gleich am ersten Tag einen Gefallen ausschlagen, den der ihm tut. Der alte Mercedes rumpelt über die Kaiser-Wilhelm-Straße und passiert Ruinen an der Stadthausbrücke. Die Außenwand eines Hauses ist fortgesprengt. Der Oberinspektor blickt im Vorbeifahren in ein aufgerissenes ehemaliges Büro im ersten Geschoss, in dessen aufgeweichter Wandtapete Regenschlieren seltsame Muster fräsen. Ihm kommt es vor, als würde ihn eine Fratze anlächeln. Zwischen zwei eingestürzten Mauern dreht ein einbeiniger Drehorgelspieler an seiner Kurbel. Der Kripo-Beamte wundert sich, wer ihm bei diesem Regen und an diesem verwüsteten Ort eine Münze spendieren soll. Am Rödingsmarkt unterqueren sie die grauen Stelzen der Hochbahn. Nur eine Station neben dem Baumwall und der Ruine, in
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