Der Falke des Nordens
1. KAPITEL
Als Joanna an dem warmen Abend auf dem Balkon ihrer Hotelsuite den Muezzin vom Minarett der Moschee hoch über den von Menschen wimmelnden Straßen Casablancas die Gläubigen zum Gebet aufrufen hörte, bekam sie eine Gänsehaut, so sehr ging ihr die fremdartige Atmosphäre unter die Haut.
Sie stellte die Kaffeetasse ab, lehnte sich an das Geländer und dachte darüber nach, wie wunderschön es doch war, in diesem so überaus geheimnisvollen Land zu sein. Es vermittelte ihr das Gefühl, sich in einer anderen Zeit zu bewegen.
“Jo!” Die ärgerliche Stimme ihres Vaters brachte Joanna unvermittelt in die Wirklichkeit zurück. “Jo! Wo, zum Teufel, steckst du?”
Fürs Erste kann ich wohl diese Stadt mit der rätselhaften Stimmung vergessen, dachte sie, während sie aufstand und zur Tür ging. Sie empfand Mitleid mit Jim Ellington, der wahrscheinlich Sam Bennetts Zornesausbruch verursacht hatte. Sie selbst war an diese Wutanfälle gewöhnt – kein Wunder nach sechsundzwanzig Jahren. Er hatte mit Jim telefoniert und sich offenbar über irgendetwas aufgeregt, das dieser gesagt oder getan hatte.
“Endlich kommst du! Wurde auch Zeit!”, fuhr Sam sie an, als sie sein Schlafzimmer betrat. “Ich habe wiederholt gerufen. Hast du mich nicht gehört?” Ihr Vater saß halb aufgerichtet im Bett, eine Menge Kissen im Rücken, und schaute sie böse an.
“Natürlich habe ich es. Man konnte dich ja durchs halbe Hotel hören. Ich nehme an, es gibt Schwierigkeiten, oder?”
“Damit hast du verdammt recht! Dieser dämliche Ellington – er hat alles vermasselt!”
“Nun, das überrascht mich nicht”, erwiderte Joanna freundlich, während sie ihrem Vater die Kissen aufschüttelte. Dann nahm sie ein kleines Fläschchen vom Nachttisch, öffnete es und ließ zwei Tabletten in die Handfläche fallen. “Ich habe dir klarzumachen versucht, dass du ihm nicht vertrauen kannst und dass er der falsche Verhandlungspartner für diesen idiotischen Adler des Ostens ist.”
“Man nennt Prinz Khalil den Falken des Nordens”, sagte Sam mürrisch.
“Ach, das ist doch egal, Falke oder Adler, Osten oder Norden. Es ist sowieso eine dumme Bezeichnung für einen zweitklassigen Ganoven.”
Sam schnitt ein Gesicht. “Dieser kleine Ganove, wie du ihn nennst, kann Bennettcos Bergwerksgeschäft mit Abu AI Zouad scheitern lassen, bevor es dazu überhaupt gekommen ist.”
“Das ist doch lächerlich”, meinte Joanna und reichte Sam ein Glas Orangensaft zusammen mit den Pillen. “Abu ist der Sultan von Jandara …”
“Und Khalil macht ihm schon jahrelang das Leben schwer, er schürt Unruhe in der Bevölkerung und stiftet Hass.”
“Warum hindert ihn Abu nicht daran?”
“Weil er ihn nicht zu fassen bekommt. Khalil ist verschlagen und so schlau wie ein Fuchs.” Sam lächelte grimmig, schluckte die Medizin und trank dann das Glas leer, bevor er es Joanna zurückgab. “Und so schnell wie ein Falke. Immer wieder kommt er überfallartig aus den Bergen im Norden angestürmt …”
“Sind das die Berge, in denen Bennettco Erz abbauen will?”
“Richtig. Also, er kommt aus den Bergen, sorgt für Aufruhr und verschwindet dann wieder wie der Blitz in seiner Festung.”
“Dann ist er nicht nur ein Ganove, sondern sogar ein
Outlaw,
so etwas wie ein Geächteter oder Verbrecher”, sagte Joanna schaudernd.
“Und er will den Vertrag untergraben, den wir mit Abu ausgehandelt haben, weil er, gemäß Abu, verhindern will, dass seinem Volk das westliche System übergestülpt wird. Aber wie dem auch sei, Tatsache ist, er wird alles versuchen, um den Vertragsabschluss zu verhindern. Wenn es uns nicht gelingt, ihn umzustimmen, können wir genauso gut gleich unsere Sachen packen und nach Hause fahren.”
“Ich verstehe das irgendwie nicht. Abu könnte doch Khalil einfach verhaften lassen …” Sie sah, wie ihr Vater die Augenbrauen hochzog und vergnügt in sich hineinlachte. “Was gibt es denn da zu lachen?”
“Ihn verhaften lassen!” Sam lachte amüsiert auf, wobei er sich ans Kreuz fasste. “Au! Hör auf! Jede Bewegung schmerzt!”
“Ich versuche nur herauszufinden, warum man den Mann nicht einsperrt, da er doch die Gesetze bricht.”
“Ich sagte ja schon, man kriegt ihn nicht zu fassen.”
“Falls du es nicht bemerkt haben solltest, man könnte zum Beispiel Khalil in diesem Moment in einem Hotel am anderen Ende von Casablanca festnehmen”, meinte Joanna.
“Ja, den Tipp habe ich Abu auch gegeben. Aber er will
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