Der Fall Collini
Geschäftsstellenbeamtin gab ihm eine dünne Akte. Auch sie kannte Leinen von seiner Referendarzeit,sie wünschte ihm Glück mit dem Verfahren. Es würde schwer werden, sagte sie und sah ihn mitleidig an, Richard Mattinger hätte sich bereits als Anwalt der Nebenkläger gemeldet. Leinen erfuhr noch, dass die Obduktion des Leichnams um dreizehn Uhr im gerichtsmedizinischen Institut erfolge.
Er nahm die Akte und überlegte, ob er seinen Mandanten besuchen sollte, aber ihm fiel nichts ein, was er mit Collini hätte besprechen können. Er blätterte die Akte durch, während er über die Flure ins Anwaltszimmer ging.
Das Anwaltszimmer im Strafgericht Moabit war ein geschützter Ort, kein Mandant, kein Staatsanwalt, kein Richter, noch nicht einmal die Dolmetscher durften es betreten. Diesen Raum gab es seit der Weimarer Republik, berühmte Verteidiger wie Max Alsberg hatten hier schon in den Zwanzigerjahren gesessen. Bis heute hatte sich nicht viel geändert. Die Anwälte lasen Zeitung, telefonierten mit den Geschäftsstellen, schrieben Anträge oder warteten auf die Fortsetzung eines Prozesses. Für einen Euro konnte man eine Robe ausleihen, die Sekretärin notierte Anrufe, manchmal schenkte sie den Anwälten, die sie mochte, Bonbons. Vor allem aber unterhielten sich die Verteidiger. Es gab Gerüchte über Richter und Staatsanwälte, Verfahren wurden besprochen,Ratschläge zu Anträgen erfragt, Koalitionen geschlossen und wieder aufgekündigt. Hielt sich ein Richter nicht an eine Absprache oder verschwieg ein Staatsanwalt Ermittlungen – hier erfuhren es die Anwälte. Sie redeten offen, gestanden Niederlagen und prahlten mit Erfolgen. In diesem Zimmer sprachen sie anders über ihre Mandanten, sie machten Witze über die Verbrechen, damit sie es ertragen konnten. Der Kaffee kam aus einem Automaten, er schmeckte nach Plastik und Milchpulver. Die Einrichtung war ein wenig schäbig geworden, der Stoff der Sofas eingerissen.
Leinen wollte zu den Kopierern im hinteren Raum, er las immer noch in der Akte, während er das Anwaltszimmer durchquerte. Er stieß mit einem anderen Anwalt zusammen, die Papiere fielen zu Boden. Leinen entschuldigte sich, hob sie auf und ging weiter. Als er am Kopierer stand, sah er Richard Mattinger auf einem Sofa, er las Zeitung. Leinen ging zu ihm.
»Guten Morgen, Herr Mattinger«, sagte er. »Caspar Leinen. Wir sind im gleichen Verfahren.«
»Fabrizio Collini? Die Hans-Meyer-Sache?«
»Ja, genau.«
Mattinger stand auf und gab Leinen die Hand. »Darf ich Sie zu einem Kaffee einladen?«, sagte er.
»Ja, gerne. Freut mich, Sie kennenzulernen«, sagteLeinen. »Ich habe eine Vorlesung über Strafprozessrecht bei Ihnen gehört.«
»Hoffentlich habe ich nicht zu viel Unsinn geredet«, sagte Mattinger und ging mit Leinen zum Kaffeeautomaten. Mattinger warf ein Geldstück in den Schacht. Die beiden Anwälte warteten, bis die Maschine einen braunen Plastikbecher ausgab. »Ich hoffe, niemand hat heute morgen schon Tomatensuppe aus dem Automat gezogen. Sonst schmecken die nächsten fünfzig Tassen abscheulich.«
»Danke. Er ist so schon grauenhaft.« Sie gingen zurück zu dem Sofa und setzten sich.
»Ich gratuliere Ihnen, Herr Leinen, das ist wirklich ein toller Fall«, sagte Mattinger.
»Alles andere als das«, murmelte Leinen.
»Warum?«
»Ich versuche gerade aus dem Mandat wieder rauszukommen. Ich habe mich dummerweise als Pflichtverteidiger beiordnen lassen, aber ich kann die Verteidigung nicht weiterführen. Sie werden das ohnehin in der Akte lesen, ich kann es Ihnen auch gleich sagen.« Leinen erzählte, was passiert war. Mattinger bat, den Antrag lesen zu dürfen, Leinen gab ihm eine Kopie.
»Er ist ausgezeichnet«, sagte Mattinger nach ein paar Minuten. »Was Sie vorgebracht haben, ist völlig verständlich. Ich bin mir aber nicht sicher, ob es ausreicht.Sie wissen, dass Sie nach der Rechtsprechung nur entpflichtet werden können, wenn zwischen Ihnen und Ihrem Mandanten das Vertrauensverhältnis erschüttert ist. Richter Köhler entscheidet immer nur nach der Rechtsprechung. Ich würde fast sagen, er ist Technokrat.«
»Ich versuche es trotzdem«, sagte Leinen.
»Wir kennen uns nicht, Herr Leinen. Sie werden sich Ratschläge von mir verbitten.«
»Nein«, sagte Leinen. »Wirklich, ich würde gerne hören, was Sie meinen.«
»Ich nehme an, dass es Ihr erster Schwurgerichtsfall ist?«
»Ja«, sagte Leinen und nickte.
»Wäre ich Sie, würde ich den Antrag nicht stellen.«
Leinen sah
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