Der Fall Collini
Totenflecke.«
»Totenflecke, lateinisch Livores, entstehen durch das schwerkraftbedingte Absinken des Blutes innerhalb der Gefäße.«
»Gut, ja, gut.«
Auf diese Art ging es etwa zwei Stunden weiter. Wagenstett diktierte in ein kleines Mikrofon, das über dem Tisch hing. Die Leichenstarre in der Muskulatur sei fast vollständig ausgeprägt, Fäulnis bestünde nicht. Wagenstett nahm den Bericht des Arztes am Tatort zur Hand, las dessen Angaben zur Körper- und Außentemperatur und nickte. Dann beschrieber den Toten: Kopf, Haare (Länge, Stirnglatze), Gesicht, Nasengerüst und -öffnungen (»Zertrümmert, Blut und klare Flüssigkeit ausgetreten, Abrinnspuren zu beiden Ohren, rechtsbetont«), die Augen ( »Links zerstört, ausgetreten, rechts teilweise vorhanden, Bindehaut blass«), die Mundhöhle ( »mit rötlicher Flüssigkeit«). Wagenstett sprach leise und konzentriert. Die äußere Leichenschau, sagte er zu seiner Assistentin, sei der erste Kontakt zu dem Toten. Behutsam, langsam und respektvoll müsse man vorgehen. Von oben nach unten, systematisch, und nicht zwischen den Auffälligkeiten hin und her springen. »Der Mann ist tot«, sagte Wagenstett, »nehmen Sie sich Zeit.« Wagenstett behandelte die Toten mit Würde, Witze am Seziertisch waren verboten.
Nach der äußeren kam die innere Leichenschau. Leinen musste sich gegen die gekachelte Wand lehnen, er spürte seine Beine nicht mehr. Wagenstett hatte den schweren Körper umgedreht und präparierte den Rücken. Mit dem Skalpell schnitt er vom Nacken bis zum Kreuzbein und weiter über den Gesäßhälften in der Form eines Ypsilons. Er trug das Gewebe schichtweise ab, entfernte die Rückenmuskulatur, klappte das Weichgewebe und das linke Schulterblatt zur Seite. Leinen schloss die Augen, aber der Geruch blieb. Er wollte gehen, aber er konnte sich nicht mehr bewegen.
Zwischen Kopfhaut und knöchernem Schädel befindet sich die Schwarte, stark durchblutet und leicht vom Knochen zu trennen. Skalpieren erfordert nur wenig Kraft. Wagenstett brachte seinen Studenten bei, dass die Angehörigen der Toten ein Recht auf eine möglichst unversehrte Leiche haben. Deshalb solle man am Hinterkopf schneiden und die Kopfhaut zur Stirn schieben, bis der Schädel frei liege. So ließe sich der Schädel einfach aufsägen und das Gehirn entnehmen. Danach ziehe man die Kopfhaut wieder herunter und vernähe sie, der Tote behalte so sein Haupt.
»Aber hier geht das nicht«, erklärte Wagenstett weiter, »die Hälfte des Kopfes fehlt, die andere Hälfte ist zertrümmert. Wir müssen anders schneiden, wir brauchen die Schusskanäle.« Es folgten lateinische Namen, Wagenstett diktierte, schnitt von Ohr zu Ohr und präparierte die noch intakte Kopfschwarte ab. Aus der sulzig aufgetriebenen Wunde fiel ein Projektil auf den Metalltisch. Zwei weitere steckten im Schädeldach fest, ein viertes war durch die linke Augenhöhle ausgetreten. Wagenstett zeigte die Metallklumpen Oberstaatsanwalt Reimers. »Stark verformt, die Ballistik wird es schwer haben«, sagte er.
Dann kamen die Sonden, lange dünne Stäbe, die den Verlauf der Schüsse rekonstruieren sollten. Wagenstett steckte sie in die »Hautlücken«, wie er dieEinschüsse nannte. Sie ragten ein paar Zentimeter aus dem Schädel. Leinen dachte, der Kopf sehe jetzt wie ein strahlendes Heiligenbild des Barocks aus. Wagenstett fotografierte, das Aufladen des Blitzkondensators blieb lange Zeit das einzige Geräusch.
Die Obduktion dauerte eine weitere Stunde, jede Wunde, jede Blutung, jede Knochenabplatzung wurde vermessen und protokolliert. Alte Narben, fünf und acht Zentimeter an beiden Knien, zwei Zentimeter am rechten Ellbogen, am Bauch sechs Zentimeter von einer Blinddarmoperation, über dem linken Ellbogen sieben Millimeter, auf dem Kinn neun Millimeter. Die Organe wurden entnommen, betrachtet und gewogen (Gehirn 1380 g, Herz 340 g, Lunge rechts 790 g, Lunge links 630 g, Milz 150 g, Leber 1060 g, Niere rechts 175 g, Niere links 180 g). Schenkelvenen- und Herzblut, Urin, Mageninhalt, Leber- und Lungengewebe und Gallenflüssigkeit wurden asserviert. Die Tritte wurden so genau wie möglich verzeichnet, die Stanzmarken des Schuhabsatzes fotografiert. Wagenstett diktierte das Sektionsgutachten und seine Folgerungen, Dr. Reimers stand auf und vertrat sich die Beine. Den Bericht bekäme er am nächsten Tag, das Sekretariat sei überlastet. Dann nähte er die Leiche wieder zu.
Die beiden Beamten der Mordkommission verließen zuerst den
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