Der Fall Collini
in diesem Verfahren vertrete. Mattinger erklärte Baumann, dass das nicht möglich sei, nur ein Angehöriger könne ihn mit der Nebenklage beauftragen. Die meisten Zivilanwälte wüssten das nicht, sagte er,aber so sei nun einmal das Gesetz. Baumann versprach, sich darum zu kümmern, und nach einer weiteren Stunde lag auf Mattingers Schreibtisch ein Telefax der Enkelin und einzigen Erbin des Ermordeten: Johanna Meyer aus London.
Mattinger versprach Johanna Meyer, sich um alles zu kümmern. Er würde morgen mit dem Staatsanwalt in Berlin sprechen und danach allen Beteiligten Bericht erstatten. Mattingers angestellter junger Anwalt ging in sein Büro und erledigte die Papierarbeit.
Gegen 23 Uhr war Mattinger wieder zu Hause. Seine Freundin schlief schon, wie immer im Gästezimmer. Aus der Küche holte er sich ein Glas Eiswasser und ging in den Garten. Es roch nach frisch geschnittenem Gras. Er zog seine Krawatte auf und öffnete das Hemd. Es war immer noch zu warm. Er presste das kalte Glas gegen seine Stirn. Die außerordentliche Sitzung des Vorstandes in München war für drei Uhr nachmittags angesetzt. Mattinger würde bis dahin keine Antworten haben. Er wusste noch nicht einmal die richtigen Fragen.
5
Die erste Nacht nach Collinis Festnahme verbrachte Leinen damit, einen Antrag zu schreiben. Er saß in seiner Wohnung am Küchentisch, Lehrbücher und Kommentare lagen aufgeschlagen vor ihm. Auf dem Tisch stand ein kleiner Schwarz-Weiß-Fernseher, die meiste Zeit lief er ohne Ton. Erst die Tagesthemen brachten um 22:30 Uhr einen kurzen Film über den Toten, kaum kommentierte Bilder: Hans Meyer mit Konrad Adenauer, Hans Meyer mit Ludwig Erhard, Hans Meyer mit Helmut Kohl. Der Sprecher rätselte über das Motiv, es sei unklar, die Staatsanwaltschaft ermittle noch. Weitere Bilder vom Hotel Adlon, vom Gefängnis und vom Gebäude der Mordkommission. Der mutmaßliche Täter sei italienischer Staatsangehöriger.
Gegen fünf Uhr früh druckte Leinen den Antragdas erste Mal aus, um sieben Uhr hatte er eine fertige Fassung. Es war ein guter Text geworden, aber er war unsicher, ob er damit durchkommen würde. Er beantragte, Collini nicht mehr verteidigen zu müssen, der Richter solle seine Bestellung als Pflichtverteidiger aufheben.
Um halb acht ging er aus dem Haus. Es hatte geregnet, die Luft war jetzt kühl und frisch. An einem Kiosk kaufte er alle Tageszeitungen, fast auf jeder Titelseite stand der Mord an Meyer.
Zwei Stockwerke unter Leinens Wohnung war im Erdgeschoss eine Bäckerei. Eigentlich war es keine Bäckerei, sondern ein »Backshop«, ein kleines Geschäft, das aussah wie hundert andere dieser Kette, schlüsselfertig geliefert. Der Bäcker war ein sehr dicker Mann, rotes Gesicht und kleine Hände, die Fingerknöchel waren nur Löcher in seinen Handrücken. Er konnte sich überraschend schnell bewegen, aber er war zu dick für den schmalen Gang hinter den Auslagen, und die Theke schnitt in seinen Bauch, die Brotkrumen hinterließen dort einen Streifen. Der Bäcker hatte drei alte Stühle aus Holz vor seinen Laden gestellt, und Leinen saß jeden Morgen im Sommer dort auf dem Bürgersteig, trank Kaffee und aß eines der schlechten Croissants. Manchmal setzte sich der Bäcker dazu. Heute sagte er, Leinen sähe schrecklich aus.
Leinen nahm die S-Bahn zum Gericht. Ein Gitarrenspieler ging durch die Waggons und brüllte einen Bob-Dylan-Song, nur ein paar Touristen gaben ihm Geld. Kurz nach acht war Leinen im Gericht in Moabit.
Die Abteilung für Kapitaldelikte der Staatsanwaltschaft lag im dritten Stock, vor den Fenstern im Flur standen Panzerglasplatten in Stahlrahmen. Er hatte als Referendar drei Monate in dieser Abteilung gearbeitet, die meisten Staatsanwälte hier kannte er zumindest vom Sehen. In der Geschäftsstelle waren bis unter die Decke die Akten gestapelt, sie lagen in Fächern, Regalen, auf Tischen und dem Boden, geordnet nach einem undurchschaubaren Prinzip. Hier wurde das Papier gesammelt, das auf den gewaltsamen Tod eines Menschen folgt. Akten wurden für alle Arten von Tötungen angelegt, für Mord, Totschlag, Tötung durch Sprengstoff oder Geiselnahme mit Todesfolge. An den Wänden hingen Postkarten, die von Sekretärinnen aus dem Urlaub geschickt worden waren: Sonnenuntergänge, Strände, Palmen. An den Bildschirmen der Computer klebten Fotos von Kindern und Ehemännern.
Leinen nannte das Aktenzeichen und legte den Beschluss des Gerichts vor, der ihn als Pflichtverteidiger auswies. Die
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