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Der Fall Collini

Der Fall Collini

Titel: Der Fall Collini Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ferdinand von Schirach
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ihn erstaunt an. »Aber … ich bin in dieser Familie praktisch aufgewachsen.«
    Mattinger schüttelte den Kopf. »Na und? Im nächsten Verfahren erinnert Sie der Mord an ein sogenanntes tragisches Erlebnis Ihrer Kindheit. Und beim übernächsten müssen Sie dauernd daran denken, dass Sie mal eine Freundin hatten, die vergewaltigt wurde. Dann gefällt Ihnen die Nase Ihres Mandanten nicht oder Sie halten die Drogen, mit denen er handelt, für das größte Übel der Menschheit. Sie wollen Verteidiger sein, Herr Leinen, also müssen Sie sich auch wie einer benehmen. Sie haben die Verteidigungeines Mannes übernommen. Gut, vielleicht war das ein Fehler. Aber es war alleine Ihr Fehler, nicht seiner. Jetzt sind Sie für diesen Mann verantwortlich, Sie sind alles, was er da drinnen hat. Sie müssen ihm von Ihrem Verhältnis mit dem Toten erzählen und ihn dann fragen, ob er noch will, dass Sie ihn verteidigen. Wenn er es will – und nur darauf kommt es an – sollten Sie sich um ihn kümmern, sich anstrengen und Ihre Sache ordentlich machen. Das ist ein Mordverfahren, kein Uniseminar.«
    Leinen wusste nicht, ob Mattinger recht hatte oder ob er nur einen unerfahrenen Gegner im Prozess wollte. Der alte Anwalt sah ihn freundlich an. Vielleicht stimmte beides.
    »Ich denke darüber nach«, sagte Leinen schließlich, »vielen Dank jedenfalls.«
    »Ich muss auch los, ich habe noch eine Besprechung in der Wirtschaftsstrafabteilung«, sagte Mattinger. »Aber sagen Sie, mögen Sie mich heute Nachmittag einmal in meinem Büro besuchen? Vielleicht wäre es ganz sinnvoll, über ein paar Dinge zu sprechen.«
    »Wirklich gerne.« Leinen war klar, dass Mattinger wissen wollte, wie er Collini verteidigen würde, wenn er in dem Mandat bliebe. Aber er wollte den großen Anwalt unbedingt kennenlernen.

6
    Wer zum ersten Mal in einem Obduktionssaal ist, begegnet dem eigenen Tod. Der moderne Mensch sieht keine Leichen mehr, sie sind vollständig aus der normalen Welt verschwunden. Manchmal liegt noch ein überfahrener Fuchs am Straßenrand. Aber einen Toten haben die meisten noch nie gesehen.
    Als Leinen in der Gerichtsmedizin eintraf, warteten Oberstaatsanwalt Dr. Reimers und zwei Beamte der Mordkommission bereits auf den Leiter der Rechtsmedizin Professor Wagenstett. Es war ungewöhnlich, dass ein Verteidiger zu einer Obduktion kam, aber Leinen wollte alles wissen.
    Der Seziertisch war 2,50 m lang und 85 cm breit, polierter Edelstahl. Er ruhte auf einer breiten Mittelsäule, an der Seite zwei geschützte Steckdosen fürSägen und Bohrer, oben ein Wasserhahn, den man mit dem Knie bedienen konnte, und eine Handbrause. Das Waschbecken war in den Tisch eingelassen. Er war ein neueres Modell, dessen Platte elektrisch gehoben und gesenkt werden konnte. »Fast geräuschlos«, hatte Wagenstett gesagt, als der Tisch vor einem halben Jahr geliefert wurde. Er hatte die Mechanik den Studenten vorgeführt, begeistert wie ein Junge mit einem neuen Spielzeug. Unterhalb der perforierten Auflage – dreiteilig zur einfacheren Reinigung – war eine Auffangwanne, Blut und andere Reste wurden über ein leichtes Gefälle zu einem herausnehmbaren Sieb transportiert. Der Kasten über dem Tisch sah aus wie eine zu große Ablufthaube in einer Küche.
    Als Leinen die Leiche sah, wurde ihm schlecht. Der Tote war nackt. Unter dem harten weißen Licht schienen die Haare auf Brust und Scham dick zu sein, Brustwarzen und Fingernägel waren dunkel, jeder Kontrast schärfer. Das Gesicht des Toten war zur Hälfte weggerissen, Muskelfasern und Knochen lagen frei. Das noch vorhandene Auge stand offen, es war milchig und eingerissen. Wie ein Fisch, dachte Leinen.
    Wagenstett begann mit der Obduktion. Er drückte mit dem Daumen auf die Leichenflecke am Oberkörper und den Beinen. Seine Assistentin, eine stämmigeMedizinstudentin mit hochgesteckten Haaren, beugte sich mit ihm über die Leiche.
    »Die Flecken sind dunkel-violett«, dozierte Wagenstett. »Die Leiche lag nicht im Freien. Das stimmt mit dem Bericht überein.« Dann wandte er sich an seine Assistentin. »Sehen Sie, die Flecken lassen sich durch kräftigen Druck nur geringfügig ablassen, sie kehren in den nächsten Sekunden nicht wieder zurück. Probieren Sie selbst.«
    Sie probierte es.
    »Was schließen Sie daraus?«, sagte Wagenstett.
    »Der Mann ist seit mehr als sechs und weniger als sechsunddreißig Stunden tot.«
    »Richtig.« Wagenstett stellte sich aufrecht hin. Er war wieder ganz Lehrer. »Definieren Sie

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