Der Fall Demjanjuk
gemacht.
Demjanjuks Verteidiger sitzt nur ein paar Schritte von seinem Mandanten entfernt, in finsteres Grübeln versunken. Ulrich Busch hat sich tief in seinen Sessel zurückgelehnt, den Kopf gesenkt, die Arme vor dem Bauch verschränkt. Nichts von dem, was er während der Verhandlung vorgetragen hat, scheint zu den Richtern durchgedrungen zu sein. Kein einziges seiner Argumente, so sieht es aus, hat Eindruck gemacht. Bis in die Formulierungen hinein folgt das Gericht den Gedanken der Staatsanwaltschaft. Schon Tage vor der Verkündung des Urteils hatteBusch angekündigt, er werde in Revision gehen, sollte der Angeklagte schuldig gesprochen werden. Vielleicht, wer weiß, hat Busch in diesem Moment im Geiste schon die Revisionsschrift entworfen.
Der Vorsitzende Richter, Ralph Alt, am Tag der Urteilsverkündung im Gerichtssaal.
Doch dann kommt, was im Fall Demjanjuk fast immer kommt, wenn die Dinge endlich klar und entschieden scheinen: eine Überraschung. Ralph Alt, der stets so sachlich und zurückhaltend auftritt, hat sich die Überraschung mit einem erstaunlichen Sinn für den Effekt ganz bis zum Schluss aufbewahrt.
Er entlässt Demjanjuk aus der Haft. Die Strafkammer hebt den Haftbefehl auf. Zu alt sei der Angeklagte, er habe keinen Pass mehr, er sei staatenlos, seit er von den USA ausgebürgert worden sei. Demjanjuk werde nicht mehr fliehen. Bis zur endgültigen Entscheidung über die Revision wird der Angeklagte auf freien Fuß gesetzt. Es ist eine Wendung, mit der niemand gerechnet hat. Und sie stürzt alle Beteiligten in einen Strudel von Emotionen.
Schuldig und doch frei: Es ist ein eigentümliches Urteil, das die Kammer da ersonnen hat, gleichzeitig weise und widersprüchlich. Einleuchtend und doch schwer nachvollziehbar.
Schweißperlen stehen Demjanjuks Anwalt Ulrich Busch auf der Stirn, als er zu seinem Mandanten eilt, um ihm das Urteil zu erklären:
«Sie sind ein freier Mann!»
«Schlafe ich?», fragt Demjanjuk ungläubig.
Schuldig und doch frei – es ist ein Urteil, das diesem Prozess auf merkwürdige Weise angemessen erscheint. Es ist die vielleicht letzte Wendung eines Lebens, das voll abenteuerlicher Volten des Schicksals steckt, das hin und her geworfen wurde zwischen Verrecken und Überleben, zwischen Schuld und Sühne. Es ist die seltsam passende Entscheidung eines einzigartigen, mitunter bizarren Falles, der schon heute Rechtsgeschichte geschrieben hat. Eines Falles, der wie kein Zweiter die Notwendigkeit und die Grenzen der juristischen Auseinandersetzung mit dem Holocaust zeigt.
Wer ist John Demjanjuk?
Als der Demjanjuk-Prozess am 30. November 2009 beginnt, an einem kalten, düsteren Wintermorgen in München, ist die halbe Welt zugeschaltet. Schon um sechs Uhr in der Frühe stehen Reporter und Kamerateams aus den Niederlanden, aus Israel, Polen, Großbritannien und den USA vor dem Betongebirge des Münchner Strafjustizzentrums an der Nymphenburger Straße, bei kaum vier Grad über Null, dick verpackt in Schals und Daunenjacken. Viele lockt die Story, die spektakuläre Geschichte eines Greises, der als junger Mann ein «KZ-Scherge» gewesen sei, wie die «Bild»-Zeitung schreibt, als stehe das schon fest, ein leibhaftiger Helfer des Holocaust. Vielen Journalisten aber steht auch die historische Dimension des Verfahrens vor Augen. Dies werde der letzte bedeutende NS-Prozess in Deutschland, heißt es.
Noch einmal, mehr als sechzig Jahre nach Kriegsende, werde sich die Bundesrepublik mit den Verbrechen der Nationalsozialisten auseinandersetzen müssen. Noch einmal, vielleicht zum letzten Mal, muss in einem großen Verfahren vor Gericht nicht nur die Schuld des Angeklagten verhandelt, sondern auch die Geschichte des Holocaust aufgerollt werden – und die Geschichte der Strafverfolgung nationalsozialistischen Unrechts nach dem Krieg. Noch einmal würde die Frage gestellt werden: Wie konnte der Judenmord geschehen? Und wer waren diejenigen, die das Menschheitsverbrechen begangen haben?
Ob der Demjanjuk-Prozess wirklich der letzte seiner Art sein wird,ist schwer zu sagen. Noch sind die Fahndungslisten der Justizbehörden nicht geschlossen, noch leben einige hochbetagte Männer und Frauen, die mit Anfang zwanzig in die Verbrechen der Nationalsozialisten verstrickt waren. Und sie werden verfolgt, mittlerweile fast konsequenter als je zuvor. Tatsächlich wurde, während John Demjanjuk in München vor Gericht stand, in Aachen der 88 Jahre alte ehemalige SS-Mann Heinrich Boere wegen der
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