Der Fall Demjanjuk
Ermordung mehrerer Zivilisten in den Niederlanden zu lebenslanger Haft verurteilt. In Bonn erhoben Staatsanwälte Anklage gegen Samuel Kunz, der Wachmann im Vernichtungslager Belzec gewesen sein soll; kurz vor Prozessbeginn, im November 2010, allerdings starb der Neunundachtzigjährige. Allein die Staatsanwaltschaft München ermittelt immer noch in rund dreißig NS-Fällen, meist wegen Kriegsverbrechen in Italien. Ob all diese Ermittlungen zu Anklagen führen werden, am Ende gar zu Strafurteilen, weiß niemand. Aber für das Verfahren gegen John Demjanjuk spielt das auch keine Rolle.
Denn ganz gleich, ob noch weitere Prozesse folgen werden: Der Fall Demjanjuk mit all seinen biographischen Verwicklungen, den historischen Unschärfen und seinen vertrackten moralischen Fragen hat deutlich gemacht, dass die juristische Auseinandersetzung mit dem Völkermord an ihr Ende kommt. Die Täter und die Zeugen sterben, die lebendige Erinnerung verblasst, die Beweisregeln des Strafprozesses stoßen an ihre Grenzen. Irgendwann, recht bald vermutlich, werden die Richter und Staatsanwälte ihre Akten schließen und an die Historiker übergeben.
Die Bedeutung des Demjanjuk-Prozesses aber geht weit über die rechtshistorische Zäsur hinaus. Dieses Verfahren ist so wichtig, so heikel, derart faszinierend und verwirrend, weil es immer wieder elementare Fragen aufwirft. Fragen nach den Grenzen des Rechts, nach den Tücken der Erinnerung, nach dem Sinn von Strafe – und danach, wer wir sein wollen, als Einzelne und als Gesellschaft.
John Demjanjuk wurde am 3. April 1920 in einem Dorf in der Ukraine geboren. Gleich nach dem Überfall der Wehrmacht auf die Sowjetunion musste er an die Front, geriet in deutsche Kriegsgefangenschaft, ließ sich, davon sind jedenfalls die Richter überzeugt, von der SS alsMordgeselle anwerben, schlug sich nach dem Krieg nach Amerika durch, schuftete bei Ford am Fließband, gründete eine Familie, ging sonntags in die Kirche und führte ein braves, unauffälliges Leben, bis Mitte der siebziger Jahre die ersten Ermittlungen in den Vereinigten Staaten gegen ihn begannen.
Demjanjuk ist nach allem, was wir wissen, ein sehr schlichter Mann. Er ist nie über einen Grundschulabschluss hinausgekommen, hat sein Leben lang als einfacher Arbeiter sein Geld verdient und kaum je einmal eine geistige Ambition gezeigt. Der Jurist Yoram Sheftel, der Demjanjuk in Israel verteidigte, hat nach der ersten längeren Begegnung mit seinem Mandanten notiert, dieser sei ein «denkbar simpler Mensch mit stark begrenzten intellektuellen Möglichkeiten». Er habe verwirrt gewirkt, unfähig, sich einfache Sachverhalte einzuprägen: «Er hatte Mühe, sich an Details aus seinem eigenen Leben oder aus dem Leben seiner Familie zu erinnern.» Für seinen israelischen Anwalt war Demjanjuk ein einfältiger Knecht, ein Wesen aus der russischen Geschichte. Sheftel schrieb: «Er schien all das zu verkörpern, was meine Großmutter über die schwergliedrigen, wettergegerbten ukrainischen Bauern erzählt hatte. […] Der Eindruck war so stark, dass ich das Gefühl hatte, diesen ‹Muzhik›, diesen Bauern, irgendwo in der Vergangenheit getroffen zu haben.» Auch Demjanjuks deutscher Anwalt Ulrich Busch beschreibt ihn als einen «einfach strukturierten Mann», der einer «tagelangen Befragung» wohl «nicht gewachsen» wäre.
Als der Prozess in München eröffnet wird, ist John Demjanjuk 89 Jahre alt. Ein Greis, krank, müde, der nur noch ein paar Jahre zu leben hat – vielleicht auch nur noch Monate. Ein Mann, der von der Justiz seit mehr als dreißig Jahren verfolgt wird, erst von der amerikanischen, dann von der israelischen, schließlich von der deutschen; ein Mann, der in Israel zum Tode verurteilt worden ist und fünf Jahre in Einzelhaft auf seine Hinrichtung gewartet hat – wegen eines falschen Verdachts. Warum muss einem solchen Mann noch einmal der Prozess gemacht werden, wegen einer Tat, die bald siebzig Jahre zurückliegt, einer Tat, die er begangen hat (wenn er sie denn begangen hat), als er kaum zwanzig war, ein verhungerter Rotarmist in deutscher Gefangenschaft, ein armer Hund, der nur eines wollte: überleben? Warum wird so einer noch vor Gericht gezerrt?
Natürlich, Mord verjährt nicht. Darauf hat sich die Bundesrepublik Ende der sechziger Jahre nach ebenso ernsthaften wie emotionalen Debatten verständigt – gerade mit Blick auf die beispiellosen Verbrechen der Nationalsozialisten. Niemals sollte sich ein Mensch, der am
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