Der Fall Demjanjuk
Judenmord beteiligt war, darauf berufen können, seine Taten seien verjährt, die Ruhe im Land, der Rechtsfrieden, sei wichtiger als die Sühne seiner individuellen Schuld. Und genau das wirft die Münchner Staatsanwaltschaft John Demjanjuk vor: die Beteiligung am Holocaust; nicht als Haupttäter, aber immerhin als Gehilfe.
Doch welchen Zweck hat es, einen wie Demjanjuk zu bestrafen? Dient es seiner Besserung? Eher nicht. John Demjanjuk hätte nach einem endgültigen Urteil kaum noch genug Zeit, um seine Wandlung zum guten, wenigstens zum besseren Menschen unter Beweis zu stellen. Was dann? Vergeltung und Rache? Das sind alte, überkommene Ziele im aufgeklärten Rechtsstaat, der auf Resozialisierung aus ist und den Begriff der Rache kaum mehr verwendet.
Zur Abschreckung, lautet die eine mögliche Antwort. Zur Abschreckung all der Gewaltherrscher und Massenmörder unserer Zeit, die den nächsten Genozid planen. Auch zur Abschreckung ihrer Handlanger und Helfershelfer. Der Fall Demjanjuk soll ihnen signalisieren: es gibt kein Entkommen, auch nicht nach Jahrzehnten, auch nicht für die anonymen Vollstrecker und Befehlsempfänger, ohne die kein Völkermord möglich ist. Ganz gleich, wie quälend langsam die Mühlen der Justiz mahlen, am Ende erreicht die Gerechtigkeit jeden. Das wäre die Botschaft. Aber ist der Fall Demjanjuk der richtige, um diese Botschaft in die Welt zu senden?
Zur Aufklärung, das wäre die andere mögliche Antwort. Der Prozess müsse aus einem sehr einfachen Grunde stattfinden, hat der Leitartikler Josef Joffe in der «Zeit» geschrieben: «Um der Wahrheit willen.» Es sei der eigentliche Zweck des Verfahrens, «der Nachwelt im rechtsstaatlichen Ringen um Schuld und Sühne, also bei penibler Beweisführung, immer wieder den moralischen Maßstab vorzuhalten, ohne den keine freie Gesellschaft auskommen kann». Und: «Es muss den Nachgeborenen stets aufs Neue erläutert, ja eingeimpft werden, welche Taten immer falsch, weil unmoralisch sind.» Nur: Ist das die Aufgabe eines Gerichtes? Ist ein Prozess der geeignete Ort für ethischmoralischeVergewisserungen der Öffentlichkeit? Ist es ein historisches Kolleg?
Oder sollte John Demjanjuk etwa angeklagt worden sein, um – zugespitzt formuliert – frühere Fehler zu korrigieren? Um der Geschichte der Strafverfolgung von NS-Tätern in der Bundesrepublik noch ein abschließendes Kapitel hinzuzufügen? Einen Epilog, der versöhnlich stimmen sollte, der der Welt noch einmal demonstrieren würde, dass Deutschland gelernt hat, nicht nur aus dem Holocaust, sondern auch aus den Versäumnissen im Umgang mit den nationalsozialistischen Verbrechen nach dem Krieg?
Natürlich wäre es absurd zu behaupten, der Fall Demjanjuk habe ausschließlich oder auch nur in erster Linie dazu gedient, das nachzuholen, was die westdeutsche Justiz nach 1945 weithin unterlassen hat. Aber ebenso steht außer Frage, dass die Geschichte der juristischen Aufarbeitung der NS-Verbrechen in der Bundesrepublik Voraussetzung und Hintergrund des Demjanjuk-Prozesses ist. Sie dient den Beteiligten als Maßstab und Ansporn, als Rechtfertigung und Motivation. Immer wieder sind die Prozessbeteiligten im Verlauf der Verhandlungen auf frühere Verfahren wegen NS-Verbrechen zu sprechen gekommen, und fast alle Argumente, die vor Gericht vorgetragen wurden, wurzeln tief in dem Bewusstsein, dass der Prozess gegen John Demjanjuk auch eine rechtshistorische Vorgeschichte hat. Und dass er so etwas wie ein Ende markiert.
Alles in allem, so lässt sich festhalten, ist die Geschichte der Strafverfolgung von NS-Verbrechen in der Bundesrepublik die Geschichte eines Scheiterns. Die bundesdeutsche Justiz hat bei der Verfolgung von Kriegsverbrechern und nationalsozialistischen Verbrechen ganz überwiegend versagt, niemand wird das noch ernsthaft bestreiten. Es mag Ausnahmen von diesem Befund geben, große und beispielhafte Anstrengungen, den Völkermord mit den Mitteln des Rechtsstaates zu sühnen, wie etwa die Auschwitz-Prozesse seit Anfang der sechziger Jahre in Frankfurt am Main. Aber alles in allem ist die Bilanz negativ. In der Mehrzahl der Fälle regierten Verdrängung und Untätigkeit der Justiz, Abwehr von Schuld und ein kollektives Entlastungsstreben, das von einem breiten gesellschaftlichen Konsens und einer großen Koalition in den Volksparteien getragen wurde. Der Historiker Norbert Frei sprichtin seiner Studie über die Bonner «Vergangenheitspolitik» von einer «skandalös vernachlässigten
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