Der Fall (German Edition)
erzähle ich Ihnen schon noch, haben Sie ein bisschen Geduld mit mir. Mein ganzer Exkurs über Freunde und Verwandtschaft gehörte übrigens irgendwie auch zum Thema. Da hat man mir zum Beispiel von einem Mann erzählt, dessen Freund im Gefängnis saß und der jeden Abend daheim auf dem blanken Fußboden schlief, um keine Bequemlichkeit zu genießen, die dem geliebten Menschen versagt war. Wer, Verehrtester, wer wird unseretwegen auf dem blanken Fußboden schlafen? Ob ich selber dazu fähig bin? Ach, sollte ich es einmal wollen, dann ganz bestimmt. Ja, eines Tages werden wir alle dazu fähig sein, und das wird das Heil bedeuten. Aber leicht ist es nicht, denn die Freundschaft ist zerstreut oder zumindest ohnmächtig. Was sie will, vermag sie nicht. Aber vielleicht will sie es nur nicht stark genug? Vielleicht lieben wir das Leben nicht genug? Ist Ihnen auch schon aufgefallen, dass erst der Tod unsere Gefühle wachrüttelt? Wie innig lieben wir doch die Freunde, die eben von uns gegangen sind, nicht wahr! Wie bewundern wir unsere Lehrmeister, sobald sie nicht mehr sprechen, weil sie den Mund voll Erde haben! Dann bezeigen wir ihnen ganz von selber die dankbare Verehrung, die sie vielleicht ihr Leben lang von uns erwartet hatten. Wissen Sie übrigens, warum wir den Toten gegenüber immer viel gerechter und großmütiger sind? Der Grund ist denkbar einfach: ihnen gegenüber haben wir keine Verpflichtung! Sie gewähren uns Freiheit, wir können uns alle Zeit lassen und die Ehrenbezeigung zwischen Cocktail und Schäferstündchen unterbringen, wenn wir gerade nichts Besseres zu tun haben. Sollten sie uns doch zu etwas verpflichten, so wäre es zum Gedenken, und wir haben ein kurzes Gedächtnis. Nein, den eben Gestorbenen unter unseren Freunden lieben wir, den schmerzlichen Toten, unsere Ergriffenheit, kurzum uns selbst!
Ich hatte einen Freund, dem ich so oft wie möglich aus dem Weg ging. Er langweilte mich ein bisschen, und zudem war er mir zu moralisch. Aber nur keine Angst: Kaum lag er im Sterben, war ich wieder zur Stelle. Keinen Tag habe ich mir entgehen lassen. Meine Hand drückend und zufrieden mit mir ist er entschlafen. Eine ehemalige Geliebte, die mir beharrlich – und vergeblich – nachlief, besaß den guten Geschmack, jung zu sterben. Was für einen Platz sie allsogleich in meinem Herzen einnahm! Und wenn es sich zudem noch um einen Selbstmord handelt! Himmel, welch herzerquickende Aufregung! Das Telefon tritt in Aktion, das Herz fließt über, und es fehlt nicht an absichtlich kurzen, aber hintergründigen Äußerungen, an beherrschtem Leid und sogar, ja doch, ein klein wenig Selbstvorwürfen.
So ist der Mensch, Verehrtester, er hat zwei Gesichter: Er kann nicht lieben, ohne sich selbst zu lieben. Beobachten Sie bloß Ihre Hausgenossen, wenn das Glück ihnen einen Todesfall unter den Nachbarn beschert. Männiglich war in seinem ereignislosen Leben eingeschlafen, und nun stirbt zum Beispiel der Concierge. Sogleich erwachen sie alle, entfalten ein eifriges Getue, gieren nach Einzelheiten und zerfließen in Mitgefühl. Ein Toter auf dem Programm, und das Schauspiel kann endlich beginnen! Sie brauchen die Tragödie, was wollen Sie, das ist ihre kleingeschriebene Transzendenz, ihr Aperitif. Es ist übrigens kein Zufall, wenn ich Concierge sage. Ich hatte einmal einen, der wirklich widerwärtig war, die Bosheit in Person, ein Ausbund von hohler Gehässigkeit; selbst ein Franziskaner hätte in diesem Fall die Waffen gestreckt! Ich wechselte schon lange kein Wort mehr mit ihm, aber sein bloßes Dasein stellte meine gewohnte Zufriedenheit in Frage. Nun denn, er starb, und ich ging hin und wohnte seinem Begräbnis bei. Können Sie mir sagen warum?
Die zwei Tage bis zur Bestattung waren übrigens äußerst lehrreich. Die Frau des Concierge lag krank in dem einzigen Zimmer, und neben ihrem Bett stand auf zwei Holzböcken der Sarg. Die Hausbewohner mussten ihre Post unten abholen. Man öffnete die Tür, sagte guten Tag, hörte sich das Loblied auf den Verstorbenen an, auf den die Concierge mit einer Handbewegung hinwies, und entfernte sich mit seinen Briefen und Zeitungen. Eine unerfreuliche Angelegenheit! Und doch stellten sich sämtliche Mieter einer um den anderen in dem nach Phenol stinkenden Raum ein. Die Leute schickten nicht etwa ihre Dienstboten, o nein, sie kamen selber, um von dem Glücksfall zu profitieren. Die Dienstboten kamen übrigens auch, doch im Versteckten. Als am Tag der Beerdigung der Sarg
Weitere Kostenlose Bücher