Der Fall (German Edition)
Angehörige der französischen Miliz. Sie traten ein, ohne anzuklopfen, und rissen ihm die Gedärme aus dem Leib.
O Pardon, gnädige Frau! Sie hat übrigens kein Wort verstanden. – Wie viele Menschen zu so später Stunde trotz des seit Tagen anhaltenden Regens noch unterwegs sind! Ein Glück, dass es Wacholder gibt, er ist der einzige Lichtblick in all dieser Düsternis. Spüren Sie, was für ein goldenes, kupfriges Licht er in Ihnen anzündet? Ich liebe es, so wacholderdurchwärmt durch die abendliche Stadt zu schlendern. Ganze Nächte durchwandere ich so, träume vor mich hin oder führe endlose Selbstgespräche. So wie heute Abend. Doch ich fürchte, ich schwatze Ihnen die Ohren voll. Danke, Sie sind zu liebenswürdig. Es ist dies eine Art Sicherheitsventil; kaum dass ich den Mund auftue, fließt die Rede über. Dieses Land inspiriert mich übrigens. Ich liebe das Volk, das sich da auf den Gehsteigen drängt, eingezwängt in einen kleinen Raum zwischen Häusern und Wasser, eingekreist von Dunstschleiern, kaltem Land und einem wie ein Waschkessel dampfenden Meer. Ich liebe es, denn es ist doppelt. Es ist hier und es ist anderswo.
Gewiss doch! Wenn Sie die schleppenden Schritte auf dem glitschigen Pflaster hören, wenn Sie die Leute zwischen ihren von goldbraunen Heringen und herbstlaubfarbenen Schmuckstücken überquellenden Läden hin und her schlurfen sehen, sind Sie unwillkürlich überzeugt, all diese Menschen seien heute Abend hier. Es geht Ihnen genau wie allen anderen, Sie halten diese guten Leute für ein Volk von Bürgermeistern und Krämern, die ihre Aussichten auf das ewige Leben nach der Zahl ihrer Taler errechnen und deren einzige lyrische Anwandlung darin besteht, breitkrempige Hüte tragend Anatomielektionen beizuwohnen. Weit gefehlt. Sie gehen neben uns her, das stimmt, und doch – schauen Sie bloß, wo ihre Köpfe sich befinden! In diesem Dunst aus Neonlicht, Wacholder und Minze, der sich von den roten und grünen Reklamen herabsenkt. Holland ist ein Traum, Monsieur, ein Traum aus Gold und Rauch, bei Tag eher rauchig, bei Nacht eher golden, und Tag und Nacht ist dieser Traum von Lohengrins bevölkert, gleich jenen Gestalten dort drüben, die versonnen auf ihren schwarzen Fahrrädern mit den hohen Lenkstangen vorüberhuschen – Trauerschwäne, die ohne Rast noch Ruh im ganzen Land den Kanälen entlang die Meere umkreisen. Sie träumen, den Kopf in ihren kupfrigen Nebelschwaden verborgen, sie ziehen ihre Kreise; wie Schlafwandler beten sie im goldenen Weihrauch des Dunsts und sind nicht mehr hier. Über Tausende von Kilometern streben sie Java entgegen, der fernen Insel. Sie beten zu jenen fratzenhaften Göttern Indonesiens, die in allen ihren Schaufenstern prunken und die im gegenwärtigen Augenblick über uns dahinschweben, ehe sie sich, prachtliebenden Affen gleich, an die Schilder und Treppengiebel hängen, um diesen von Fernweh geplagten Kolonisten in Erinnerung zu rufen, dass Holland nicht nur das Europa der Krämer ist, sondern zugleich auch die See, die See, die einen nach Zipangu trägt und zu jenen Inseln, wo die Menschen im Wahnsinn und im Glück sterben.
Aber die Gewohnheit geht mit mir durch, ich plädiere! Verzeihen Sie. Ja, die Gewohnheit, Monsieur, die Berufung, und nicht zuletzt auch mein Wunsch, Ihnen diese Stadt – und das Herz der Dinge nahezubringen! Denn wir befinden uns hier im Herzen der Dinge. Finden Sie nicht, dass die konzentrischen Kanäle von Amsterdam den Kreisen der Hölle gleichen? Der bürgerlichen, von Albträumen bevölkerten Hölle natürlich. Je mehr Kreise man von außen kommend durchschreitet, desto undurchdringlicher, desto finsterer wird das Leben und mit ihm seine Verbrechen. Hier stehen wir im letzten Kreis. Dem Kreis der … Ach! Das wissen Sie? Teufel auch, es wird immer schwieriger, Sie einzuordnen. Aber dann verstehen Sie, warum ich sagen kann, der Mittelpunkt der Dinge sei hier, obgleich wir uns am Rande des Kontinents befinden. Aufgeschlossene Menschen begreifen solche Wunderlichkeiten. Auf jeden Fall können die Hurer und Zeitungsleser hier nicht weiter. Aus allen Ecken und Enden Europas strömen sie herbei und bleiben am farblosen Strand des Binnenmeeres stehen. Sie lauschen den Sirenen, sie suchen vergeblich im Nebel die Silhouetten der Schiffe zu erspähen, dann kehren sie über die Kanäle zurück und schlagen im Regen den Heimweg ein. Durchfroren kommen sie ins Mexico-City und bestellen in allen Sprachen der Welt ihren Wacholder. Dort
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