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Der Fall (German Edition)

Der Fall (German Edition)

Titel: Der Fall (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Albert Camus
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nur lief ich keine Gefahr, in das Lager der Verbrecher hinüberzuwechseln (insbesondere hatte ich als Junggeselle keinerlei Aussicht, meine Frau zu ermorden), sondern ich übernahm sogar die Verteidigung dieser Menschen, unter der einzigen Bedingung, dass sie gutartige Mörder waren, so wie andere gutartige Wilde sind. Schon allein meine Art, eine solche Verteidigung zu führen, erfüllte mich mit tiefer Befriedigung. In meinem Berufsleben war ich wirklich untadelig. Dass ich mich nie bestechen ließ, versteht sich von selbst; aber darüber hinaus habe ich mich auch nie dazu bereit gefunden, selber derlei Schritte zu unternehmen. Was noch seltener ist: Ich habe mich nie dazu herbeigelassen, einem Journalisten zu schmeicheln, um ihn mir günstig zu stimmen, oder einem Beamten, dessen Freundschaft mir hätte nützlich sein können. Ich hatte sogar das Glück, zwei- oder dreimal diskret und würdevoll die Ehrenlegion ablehnen zu können, und eben darin fand ich meine wahre Belohnung. Und schließlich habe ich die Armen immer unentgeltlich verteidigt und dies nie an die große Glocke gehängt. Glauben Sie nicht, Verehrtester, ich wolle mich mit all diesen Dingen brüsten. Ich hatte gar kein Verdienst dabei, denn die Habsucht, die in unserer Gesellschaft an die Stelle des Ehrgeizes getreten ist, hat mich immer gelächert. Ich wollte höher hinaus. Sie werden sehen, dass dieser Ausdruck in meinem Fall zutrifft.
    Wie Sie unschwer ermessen können, hatte ich allen Grund zur Zufriedenheit. Ich sonnte mich in meinem eigenen Wesen, und wir alle wissen, dass darin das wahre Glück besteht, obwohl wir zur gegenseitigen Beruhigung bisweilen Miene machen, diese Freuden als sogenannten Egoismus zu verdammen. Zumindest genoss ich jenen Teil meines Wesens, der so akkurat auf die Witwen und Waisen ansprach und so oft auf den Plan gerufen wurde, dass er schließlich mein ganzes Leben beherrschte. Ich liebte es zum Beispiel ungemein, den Blinden beim Überqueren der Straße zu helfen. Sobald ich von weitem den Stock eines Blinden an einem Randstein zögern sah, stürzte ich herbei, kam manchmal um Sekundenlänge einer schon hilfsbereit ausgestreckten Hand zuvor, entriss den Blinden jeder fremden Obhut und führte ihn mit sanfter, doch fester Hand über den Fußgängerstreifen, zwischen den Hindernissen des Verkehrs hindurch, zum sicheren Port des gegenüberliegenden Gehsteigs, wo wir uns gerührt voneinander trennten. Desgleichen war es mir immer ein Vergnügen, einem Passanten Auskunft oder Feuer zu geben, Hand anzulegen, wenn es einen zu schweren Karren oder ein stehen gebliebenes Auto zu schieben galt, der Frau von der Heilsarmee ihre Zeitung abzukaufen oder bei der alten Händlerin Blumen zu erstehen, obwohl ich genau wusste, dass sie sie auf dem Friedhof Montparnasse stahl. Ich liebte es auch – dieses Geständnis will freilich nicht so leicht über die Lippen –, ich liebte es, Almosen zu geben. Ein höchst christlich gesinnter Freund gab einmal zu, dass man als Erstes Unbehagen empfindet, wenn man einen Bettler auf sein Haus zukommen sieht. Nun, mit mir war es noch schlimmer bestellt: ich frohlockte. Aber lassen wir das.
    Sprechen wir lieber von meiner Zuvorkommenheit. Sie war geradezu sprichwörtlich und trotzdem unleugbar. Das Höflichsein verschaffte mir nämlich nicht unbeträchtliche Freuden. Wenn ich hin und wieder das Glück hatte, morgens im Omnibus oder in der Untergrundbahn meinen Platz jemand abtreten zu können, der es offensichtlich verdiente, einen Gegenstand aufzuheben, den eine alte Dame fallen gelassen hatte, und ihn ihr mit einem mir nur allzu bekannten Lächeln zu überreichen, oder auch bloß mein Taxi einem Fahrgast zu überlassen, der es eiliger hatte als ich, so war mein ganzer Tag verschönt. Es muss auch gesagt werden, dass ich mich sogar über jeden Streik der öffentlichen Verkehrsmittel freute, denn an solchen Tagen bot sich mir Gelegenheit, an den Omnibushaltestellen ein paar meiner unglücklichen, am Heimkehren verhinderten Mitbürger in meinen Wagen zu laden. Im Theater meinen Platz zu wechseln, um einem Liebespaar das Nebeneinandersitzen zu ermöglichen, in der Eisenbahn einem jungen Mädchen das Gepäck im zu hohen Netz zu verstauen, das waren Taten, die ich deshalb öfter als andere Menschen vollbrachte, weil ich die Gelegenheiten aufmerksamer wahrnahm und ihnen ein bewusster genossenes Vergnügen abzugewinnen verstand.
    Des Weiteren galt ich als freigebig und war es auch in der Tat. Ich habe

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