Der Fall (German Edition)
schließlich finden Sie mich unterhaltsam, was, ganz ohne Eitelkeit gesagt, eine gewisse Aufgeschlossenheit des Geistes voraussetzt. Sie sind also so ungefähr … Aber was liegt schon daran? Mich interessieren die Sekten weit mehr als die Berufe. Erlauben Sie mir doch bitte zwei Fragen, aber beantworten Sie sie nur, wenn Sie sie nicht indiskret finden. Nennen Sie Schätze Ihr Eigen? Einige? Gut. Haben Sie sie mit den Armen geteilt? Nein. Sie sind also, was ich einen Sadduzäer nenne. Wenn Sie nicht bibelkundig sind, wird Ihnen das kaum etwas sagen. Doch? Die Bibel ist Ihnen also nicht unbekannt? Sie sind ganz entschieden ein Mensch, der mich interessiert.
Ich für mein Teil … Nun, urteilen Sie selber. Mein Wuchs, die breiten Schultern und das Gesicht, von dem mir oft gesagt wurde, es habe etwas Grimmiges, erinnern am ehesten an einen Rugbyspieler, nicht wahr? Aber nach meiner Konversation zu schließen, muss man mir schon einen gewissen Schliff zubilligen. Das Kamel, das die Wolle zu meinem Mantel geliefert hat, war zweifellos räudig; dafür sind meine Fingernägel manikürt. Ich habe gleich Ihnen meine Erfahrungen gesammelt; nichtsdestoweniger eröffne ich mich Ihnen unbedenklich, einfach weil Ihr Gesicht mir gefällt. Und schließlich bin ich trotz meiner guten Manieren und meiner gewählten Sprache ein Stammgast der Matrosenkneipen von Zeedijk. Nein, nein, raten Sie nicht länger. Mein Beruf ist doppelter Natur, wie der Mensch, weiter nichts. Ich habe Ihnen bereits gesagt, dass ich Buß-Richter bin. Einfach ist an meinem Fall nur dies eine: Ich habe keinerlei Besitz. Ja, früher war ich reich. Nein, ich habe nicht mit den Armen geteilt. Was beweist das schon? Dass auch ich ein Sadduzäer war … Hören Sie die Sirenen im Hafen? Heute Nacht gibt es Nebel auf der Zuidersee.
Sie wollen schon aufbrechen? Verzeihen Sie, wenn ich Sie aufgehalten haben sollte. Mit Ihrer gütigen Erlaubnis lassen Sie die Zeche meine Sache sein. Im Mexico-City sind Sie mein Gast, es war mir eine ganz besondere Freude, Sie hier empfangen zu dürfen. Morgen bin ich bestimmt wieder hier anzutreffen, wie übrigens jeden Abend, und dann werde ich Ihrer Einladung gerne Folge leisten. Welchen Weg Sie einschlagen müssen? … Nun … Hätten Sie etwas dagegen, wenn ich Sie der Einfachheit halber bis zum Hafen begleitete? Von dort gehen Sie dann am besten um das Judenviertel herum und gelangen so zu den schönen Avenuen, auf denen die von Blumen und dröhnender Musik erfüllten Trambahnen fahren. Ihr Hotel liegt in einer dieser Straßen, dem Damrak. Bitte nach Ihnen. Ich selber wohne im Judenviertel; wenigstens hieß es so, ehe unsere hitlertreuen Brüder für Platz sorgten. Was für eine Säuberung! Fünfundsiebzigtausend deportierte oder ermordete Juden – das nennt man großes Reinemachen! Ich bewundere diese Gründlichkeit, dieses planmäßige, geduldige Vorgehen! Wer keinen Charakter hat, muss sich wohl oder übel eine Methode zulegen. Hier hat sie Wunder gewirkt, das steht ganz außer Zweifel, und ich wohne an dem Ort, wo eines der größten Verbrechen der Geschichte begangen wurde. Mag sein, dass gerade dieser Umstand es mir erleichtert, den Gorilla und sein Misstrauen zu verstehen, und mir ermöglicht, gegen jenen natürlichen Hang anzukämpfen, der mich unwiderstehlich zur Sympathie neigen lässt. Sooft ich ein neues Gesicht sehe, ertönt in meinem Innern ein Warnsignal: «Achtung! Gefahr!» Selbst wenn die Sympathie sich als stärker erweist, bleibe ich auf der Hut.
Wenn Sie bedenken, dass in meinem Heimatdorf ein deutscher Offizier im Zuge einer Vergeltungsaktion eine alte Frau sehr höflich ersuchte, unter ihren beiden Söhnen denjenigen auszuwählen, der als Geisel erschossen werden sollte! Wählen sollte sie, können Sie sich das vorstellen? Diesen hier? Nein, den anderen. Und zusehen, wie er abgeführt wird. Lassen wir das; aber glauben Sie mir, Monsieur, man kann die unwahrscheinlichsten Dinge erleben. Ich habe einen Mann mit reinem Herzen gekannt, der sich weigerte, den Menschen zu misstrauen. Er war ein Pazifist und Anarchist, seine unteilbare Liebe galt der gesamten Menschheit und der Tierwelt natürlich auch. Ganz fraglos eine erlesene Seele. Nun, während der letzten europäischen Glaubenskriege zog er sich aufs Land zurück. Über der Tür seines Hauses stand zu lesen: «Woher du auch kommen magst, tritt ein und sei willkommen.» Was glauben Sie, wer dieser hochherzigen Einladung Folge leistete? Ein paar
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