Der Fall Giftnudel
im dunkelgrünen Wintermantel reißt Roman jetzt aus seinen Gedanken. Sie hat ihm schon eine ganze Weile zugehört und sagt: „Sie spielen sehr schön. Viel zu schade für die Straße, wo kaum einer zuhört!“
„Sie hören mir ja zu“, sagt Roman etwas verlegen.
„Das ist mein Beruf! Ich bin Musikprofessorin und quäle mich den ganzen Tag über mit Studenten ab, die nicht einen Bruchteil von Ihrem Talent haben!“
Die junge Frau im grünen Mantel heißt Mara Greve. Sie lädt Roman zu einer Tasse Suppe im Rathauskeller ein.
Roman erzählt ihr eine leicht geschönte Version seiner Flucht aus Rumänien.
Mara erzählt ein bisschen von sich: „Ich bin damals auch von zu Hause weggelaufen. Ich wollte unbedingt Musik studieren und meine Eltern wollten, dass ich den Bauernhof übernehme!“
Sie sieht Roman prüfend an und meint dann: „Vielleicht kann ich etwas für Sie tun.“
„Das wär schön“, sagt Roman.
Mara erzählt ihren Kollegen in der Musikhochschule von dem Talent, das sie unter den Arkaden entdeckt hat. Sie macht den Vorschlag, ob man dem jungen Rumänen nicht eine Ausbildung oder ein Stipendium zukommen lassen könnte.
„Du bist verrückt! Einen hergelaufenen Straßengeiger!“, protestiert ihr Freund und Kollege Ludwig Bethmann. „Es gibt genug Studenten, die auf Ausbildungsplätze warten.“
„Kann er nicht wenigstens mal vorspielen?“, bittet Mara.
Roman spielt vor. Alle sind begeistert. Sogar Ludwig. So wird Roman in ein Förderprogramm aufgenommen und unterrichtet.
Nach einigen Monaten hat er sein erstes kleines Konzert.
Es ist ein großer Erfolg.
„Hat wirklich gut gespielt, dein Stadtstreicher! Aber er wird es dir nie danken“, sagt Ludwig Bethmann, den die Eifersucht umtreibt.
„Kommt es darauf an?“, lächelt Mara. „Er hat das Talent!“
Roman wohnt längst nicht mehr in der schäbigen Bude, in der er früher gewohnt hat. Er teilt sich ein Zimmer mit einem Landsmann. Der heißt Jöran Loz und verdient sich sein Geld mit Gelegenheitsgeschäften. Roman hat ihn am Bahnhof kennen gelernt.
Eines Tages im Frühjahr lädt Mara Roman zu einem Wochenende auf dem Land ein. Sie zeigt ihm den Bauernhof ihrer Eltern im Oldenburger Land. Roman erzählt, dass seine Eltern zu Hause auch einen Bauernhof haben. Er übertreibt maßlos. Aber wie soll Mara jemals herausfinden, dass sein Vater das kleine Gut vertrunken hat und jetzt nur noch Knecht bei seinem Großonkel ist?
An diesem Tag zeigt Mara ihm zum ersten Mal ihre Geige. Ein altes Erbstück! Maras musikalische Begabung stammt, genau wie diese Geige, von einem italienischen Vorfahren, der einmal Musikant in den Diensten des Herzogs von Oldenburg gewesen ist.
„Diese Geige ist sehr alt und sehr, sehr wertvoll“, sagt Mara. „Deshalb nehme ich sie auch nur zu ganz besonderen Gelegenheiten. Möchtest du sie mal spielen?“
Roman nimmt die Geige vorsichtig in die Hände, legt sie ans Kinn, stimmt sie, greift zum Bogen und spielt. Spielt, wie er noch nie in seinem Leben gespielt hat. Es klingt so schön, dass Mara die Tränen in die Augen steigen.
„Das ist – das ist doch nicht etwa eine ...“
„Ja“, sagt Mara. „Seit einigen Monaten weiß ich es ganz genau: es ist eine Stradivari!“
Ganz vorsichtig legt Roman die kostbare Geige in die Hand der Besitzerin zurück. Mara schließt die Geige wieder in den Kasten.
„Ich habe schon Angebote aus Italien und Amerika und auch von den Spezialisten in Paris, die das Gutachten gemacht haben. Vielleicht sollte ich die Geige tatsächlich verkaufen. Sie ist viel zu kostbar für mich. Meine Eltern könnten das Geld gut gebrauchen. Außerdem steh ich immer Todesängste aus, wenn ich mit der Geige unterwegs bin. Wie leicht könnte sie mir einmal gestohlen werden!“
Als Roman von seinem Landausflug zurückkommt, erzählt er seinem Zimmergenossen von dem aufregenden Erlebnis.
Jöran ist zwar total unmusikalisch. Aber dass eine echte Stradivari nicht mit Gold zu bezahlen ist, weiß er auch.
„Hast du eine Ahnung, wie viel das Ding wert ist?“, fragt Jöran.
„Mara sagt, zwei Millionen wären ihr schon dafür angeboten worden“, antwortet Roman.
„Zwei Millionen Euro?“, staunt Jöran. Seine Augen glitzern gierig. „Das wär für jeden von uns genau eine Million“, überlegt er.
„Bist du verrückt?“, protestiert Roman und er bedauert schon, dass er Jöran von der Geige erzählt hat. Aber die Millionen spuken von diesem Tag an unaufhörlich in Jörans Kopf
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