Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Fall Maurizius

Der Fall Maurizius

Titel: Der Fall Maurizius Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jakob Wassermann
Vom Netzwerk:
schweigend an ihm vorübergehen, hat Herr von Andergast eine Regung von Furcht, als solle er sich verantworten und könne sich nicht erinnern wofür und in welcher Sache, ist dann die Begegnung glücklich überstanden, so fühlt er sich versucht, dem Betreffenden nachzueilen und ihn zu bitten, eine Strecke Wegs mit ihm zu gehen. Er möchte nicht so allein sein. Er erwägt, daß es nicht unmöglich wäre, den entlassenen Sträfling Maurizius unvermutet an einer Straßenecke zu treffen, aus der Erwägung wird Wunsch, aus dem Wunsch heftiges Verlangen. Er bleibt vor den Türen der Hotels stehen, um die Aus- und Eingehenden zu mustern, er späht durch Vorhangspalten in Wirtsstuben und Kaffeehäuser, es wäre nicht unmöglich, daß Maurizius drinnen sitzt, auch allein, gewiß nicht weniger allein als Herr von Andergast. Eines Abends ging er in das Haus, wo Violet Winston gewohnt hatte. Er läutete an der Tür. Ein Mädchen, das die Tür der gegenüberliegenden Wohnung öffnete, sagte ihm, das Fräulein sei vor einer Woche abgereist. Ungeachtet dieses Bescheides kam er am nächsten Abend noch einmal, als hätte er gänzlich vergessen, was man ihm gesagt, oder als sei er des Glaubens, Violet sei zwischen gestern und heute zurückgekehrt. Dabei lebte gar keine Vorstellung mehr von ihr in seinem Innern, und wenn sie wirklich die Tür aufgemacht hätte, wäre es ganz bedeutungslos für ihn gewesen. In der gleichen Nacht suchte er zu Hause unter alten Briefen die heraus, die er von Etzel erhalten hatte (es waren nur wenige, von Ferienreisen, aus dem Odenwälder Heim), las sie aufs genaueste durch, wieder und wieder, als hätten die einfachen Worte doppelten Sinn, den zu ergründen so unerläßlich wie unaufschiebbar war.
    3

    Etzel trat auf ihn zu und reichte ihm die Hand. »Guten Morgen, Papa.« Wie wenn sie einander gestern abend zuletzt gesehen hätten. Herr von Andergast schaute über den Kopf des Sohnes hinweg, hinter ihn, auf die Schürze der Rie. »Zurückgekehrt?« fragte er, und Mundöffnen und -schließen hatte etwas Fischartiges. Pause. »Darf ich dich bitten, in mein Zimmer zu kommen?« – »Gewiß, Papa.« Sie gingen in das Arbeitszimmer hinüber, die Rie sah ihnen mit einem Gesicht nach, als dächte sie sich: wenn ich den Jungen heil wiedersehe, will ich Gott danken. Herr von Andergast schritt voran, ließ Etzel eintreten, schloß die Tür, deutete auf einen Stuhl: »Bitte, nimm Platz.« Etzel starrte auf die weisende, braunbehaarte Hand und setzte sich gehorsam. Herr von Andergast ging in der Länge des Zimmers auf und ab, ungewöhnlich hastig. Etzel hatte ihn nie so hastig schreiten sehen. Die innere Bewegung, die sich darin kundgab, erweckte ein Gefühl der Befriedigung in ihm. »Ich dachte, es verwinden zu können«, begann Herr von Andergast immer rascher gehend, »ich habe es jedoch nicht verwunden. Es gibt eine Kategorie des Verrats, über die man in meinen Jahren nicht hinwegkommt. Details sind nicht von Belang, du wirst sie mir erlassen. Die Frage lautet zunächst nicht: was ist geschehen? sondern: was soll werden?« – »Ganz richtig, Papa, das ist auch meine Empfindung«, erwiderte Etzel bescheiden. – Herr von Andergast blieb mit einem Ruck stehen und blickte ihn an. »Diese Einsicht ehrt dich«, sagte er sarkastisch. Er trat noch einen Schritt näher, legte dem Knaben die Hand auf den Scheitel und bog ihm den Kopf zurück. »Sonderbar mitgenommen siehst du aus«, sagte er finster und zog die Hand zurück, als hätte er sie verbrannt. – »Ich war krank, Papa.« – »Ah, krank? kein Wunder. Wo hast du dich herumgetrieben?« Auf einmal schrie er auf, mit verzerrtem Gesicht, alle Selbstbeherrschung war dahin, schrie wie rasend auf: »Junge, wo hast du dich herumgetrieben?« schlug die Hände vor die Augen und stöhnte.
    Das hatte Etzel nicht erwartet. Das erste Mal in seinem Leben sah er den Vater außer sich. Es machte ihm großen Eindruck. Auch die Berührung vorher, er hatte zu spüren geglaubt, daß die Hand des Vaters dabei gezittert hatte, und der Zug um den Mund, die Zerquältheit, alles das blieb ihm haften, daran hatte er zu denken. Und: es befriedigte ihn. Während er sich zu einer Antwort sammelte, hatte sich Herr von Andergast zur Ruhe bezwungen. »Als ich fortging, habe ich dir ja geschrieben, warum ich fortgehen mußte«, sagte Etzel, »von Herumtreiben war keine Rede.« – Herr von Andergast warf sich in den Schreibtischsessel, schlug die Beine übereinander, strich mit den Fingern

Weitere Kostenlose Bücher