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Der Fall Maurizius

Der Fall Maurizius

Titel: Der Fall Maurizius Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jakob Wassermann
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sein darf. Es hat Abende und Nächte gegeben, in denen sich Herr von Andergast wie ein alter ego des Sträflings Maurizius erschienen ist. Eingemauert im Haus der Erinnerungen war er verurteilt, die Gegenwart und »Nähe« übler Individuen zu ertragen, es sammelten sich um ihn Hehler, Diebe, Einbrecher, Kuppler, Totschläger, betrunkene Dirnen, Mütter, die ihre Kinder mißhandelt, Defraudanten, Bankrotteure, Hochstapler, Falschmünzer, Wechselfälscher, Schmuggler, Giftmischerinnen, Kindsmörderinnen, Brandstifter, eine Armee ohne Altersgrenze nach unten und oben, Charaktere für den Bedarf von zehntausend Romanverfassern, und er als Ankläger, jedem das Schuldig zurufend. Schließlich, es wird eine Sache der Gewohnheit wie jede andere, eine mit Würde begabte, vom Kredit der Nation unterstützte. Man härtet sich ab. Der Talar isoliert. Man sitzt auf dem kurulischen Stuhl und liefert den Übeltäter an den Richter aus, der ihn mit Hilfe des Paragraphen unschädlich macht. Keine Rede davon, daß dieser Abschaum der menschlichen Gesellschaft mit Samthandschuhen anzufassen ist, so weit würde sich weder der Sträfling Maurizius noch sein romantisch angekränkelter Busenfreund Klakusch versteigen, man kann die strenge Welt der Ereignisse nicht zu einem Rührei von Verantwortungslosigkeiten werden lassen oder jeden Montagvormittag die soziale Ordnung von neuem anfangen, um am Samstagnachmittag verzweifelt seine Ohnmacht und Inkompetenz zu bekennen. Aber wenn die Tausende und Tausende von Gesichtern Revue passieren, erhebt sich eins oder das andere, ein jähes Blitzlicht fällt erschreckend darauf, und in den Augen und auf den bitter verschlossenen Lippen liegt eine Frage. Nichts weiter eigentlich: eine Frage, wortlose Frage. Und es genügt. Ein oder das andere Gesicht aus einer Armee, und es genügt. Das Merkwürdige ist: einer zeugt immer für eine ganze Schar. So wie der Sträfling Maurizius für alle, für eine ganze Welt gezeugt hat. Es vollzieht sich dann selbsttätig, daß der Verbrecher, der vor etwa sechzehn Jahren abgeurteilt worden ist und dessen Namen man bereits vergessen hat, plötzlich zum Ankläger wird, weil aus einem übersehenen Schlupfwinkel Umstände zutage treten oder beachtenswert scheinen, die den Fall, hätte man damals sein Augenmerk darauf gelenkt, aus einem Rechtsfall zu einem Menschenfall gemacht hätten, und was soll man mit einem Menschenfall machen? Staat und Gesetz geben keine Handhabe dazu. Aber der krankhafte Rückschau- und Umkehrzwang bewirkt, daß sich Herr von Andergast mit seinem unvergleichlichen Tatsachengedächtnis den ganzen Bau und Verlauf des Prozesses vergegenwärtigt, genau wie er es im Fall Maurizius getan, bisweilen auch die einschlägigen Akten noch zu Rat zieht und wühlt und wühlt und wühlt. Da es aber jetzt nicht mehr bei dem einen Fall sein Bewenden hat, sondern zu gleicher Zeit ein halb Dutzend und mehr Fälle in seinem Kopf rumoren, verwirrt sich manchmal alles in ihm, er kommt sich vor wie in eine Walpurgisnacht versetzt, und es geschieht nicht selten, daß er zu später Stunde das Haus verläßt (davon weiß die Rie nichts) und bis zum Morgengrauen in den öden Straßen, herumirrt. Und Wortschälle und Widerschälle zerreißen die Stille: »Der Angeklagte behauptet, an dem fraglichen Tag zwischen zwölf und halb zwei bei seiner Tante gegessen zu haben, erwiesen ist aber . . . Ich stelle den Antrag, diesen Zeugen, den die Verteidigung grundlos zu verunglimpfen bemüht ist, noch einmal vorzuladen . . . Frau Zeugin, Ihre Aussage gibt zu schweren Bedenken Anlaß, ich ermahne Sie an Ihren Eid . . .« Scheue Blicke, leidenschaftliche Beteuerungen, angstvolle und haßerfüllte Mienen, nachgeprüfte Zeit, nachgeprüfte Wege, der Zufall als Verräter, die stummen Dinge als Verräter, Lokalaugenschein in Stuben, Gärten, Höfen, an Flußufern und in Kaschemmen, Lüge und Leugnen, falsche Bezichtigung, verzweifelter Kampf um Freispruch, unüberzeugte Geschworene, überhebliche Advokaten, indolente Richter, befangene Richter, das Gesetz nicht von erwünschter Klarheit, die öffentliche Meinung mißleitet, und jetzt, in der Rückschau, alles eingebrachte Rechtsgut unter makabren Zweifel gesetzt, wie Getreide, das in der Scheune fault . . . einen Meter Strafe für einen Millimeter Schuld . . . kein Ansehn der inneren Person, und immer einer, da und da und da, mit der lautlosen Frage auf den Lippen, die das Richterrecht verwirft und den Ankläger anklagt. Oft wenn Menschen

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