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Der Fall Maurizius

Der Fall Maurizius

Titel: Der Fall Maurizius Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jakob Wassermann
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Augen und hört sein Blut in den Adern fließen. Nach einer langen Zeit öffnet er die Augen wieder, holt einen Apfel aus der Reisetasche, schält ihn sorgfältig, zerschneidet ihn und ißt mit großem Genuß an dem Kühlen und Saftigen der Frucht. Es ist etwas Gehobenes in ihm, etwas wie Unternehmungslust. Er lehnt den Kopf an die Fensterscheibe, aus der dicken Finsternis draußen platzen bisweilen Lichter auf wie Raketen. Er erhebt sich, zündet eine Zigarette an, leise pfeifend begibt er sich in den Korridor des Wagens. Er zieht das Fenster herunter. Schwarze Landschaft, mattleuchtender Himmel; hinter Nebeln ein paar unsinnig ferne Sterne. Die Konturen von Hügeln treten klar hervor. Der Zug, mit asthmatisch keuchender Maschine, klimmt einen Hang empor, in der Tiefe rauscht Wasser. Er wirft die Zigarette weg, sie fällt schräg ins Bodenlose; er kann den glimmenden Punkt ziemlich lang verfolgen. Leise pfeifend geht er zur Waggontür, drückt den Hebel nieder, stößt die Tür auf; kalte Nachtluft prallt her; der Zug rattert über einen hochgebauten, brüstungslosen Viadukt, hart am Rande. Unmittelbar unter den Füßen ist eine Schlucht. Er hält sich an der rußigen Eisenstange fest, steigt die Trittstufen hinunter, schaut forschend, mit leichter Neugier, in die unbekannte Tiefe. Es ist ihm zumut, als sei die Welt plötzlich umgekehrt, der Sternenhimmel unten. Unangenehmer Gedanke, daß seine Hände an der rußigen Eisenstange schmutzig werden. Lächerlicherweise erwägt er sogar, noch einmal zurück zu gehen und sich die Hände zu waschen. Vom benachbarten Fenster des folgenden Wagens bemerkt ihn der Schaffner; der Mann ist vor Wut und Entsetzen außer sich, hebt die Fäuste, reißt am Fensterriemen, schreit mit offenem Mund, Maurizius hört es nicht, er sieht nur den weitaufgerissenen Mund mit zwei Reihen von Raubtierzähnen. Er nickt gleichgültig. Er tut den Schritt in den leeren Raum hinaus. Höchste Zeit, noch wenige Meter, und der Zug hat den Viadukt passiert. Er tut den Schritt, wie man von einem Zimmer ins andere geht. Es ist der Schritt in die große, in die wirkliche Unwiderruflichkeit.
    Letztes Kapitel
    1

    Die Rückkehr Etzels in das väterliche Haus geschah unter beträchtlichem Aufsehen der Dienstleute und Hausparteien, vor allem natürlich unter hemmungslos lärmenden Ausbrüchen der guten Rie, die von einem Überschwang in den andern fiel und bald vor Schluchzen, bald vor Lachen nicht wußte, was sie beginnen sollte. Er kam um zehn Uhr vormittags; da er äußerst knapp mit dem Gelde gewesen, war er vierter Klasse gefahren und hatte beinahe vierundzwanzig Stunden zur Reise gebraucht. Nach den ersten Sturzbächen von Fragen und Interjektionen, endlosem Händeringen und Dankgeseufze entsetzte sich die Rie über seinen Aufzug; in der Tat sah er mehr einem wandernden Kesselflicker als einem Mitglied der bürgerlichen Gesellschaft ähnlich. Das Jackett war abgerissen, das Hemd schmierig, die Kniehose glich zwei notdürftig zusammengenähten Kartoffelsäcken, die Stiefel waren vertreten und löcherig, die Haare bis in den Nacken hinunter gewachsen, das Gesicht hager in die Länge gezogen, die Augen leuchteten übergroß in dem blassen Oval. Als er sich des Rucksacks entledigt, der genau so geschwollen war wie bei seinem Abgang, verlangte er Reinigung, Wäsche, Speise und ging in sein Zimmer. Die Rie konnte sich nicht entschließen, ihn sich selbst zu überlassen, gab nur in der Küche umfassende Anweisung wegen des Frühstücks, folgte ihm sodann, riß Schränke und Läden auf, schoß ins Badezimmer, um den Hahn zu öffnen, kam wieder und indes sie mit zitternden Händen alles zum Umkleiden Erforderliche aus den Behältnissen hervorsuchte, geriet sie in ein nervös-schwatzhaftes Berichten und Erzählen. Belangloses zuerst, Ereignisse in der Nachbarschaft, Geburt eines Kindes, nächtlicher Einbruch beim Juwelier Herschmann, Zimmerbrand bei Malaperts unten. Dazwischen: »Ihr Heiligen, der Wasserhahn, Emma! die Wanne wird überlaufen!« Das gewichtigere Häusliche dann. Herr von Andergast ist nicht zu Hause. Daran ist natürlich nichts Besonderes, da er ja täglich um halb zehn ins Amt geht, unbeirrbar. Das Auffallende ist, daß er seit einiger Zeit zu ungewöhnlicher Stunde zurückkehrt, um elf, um halb zwölf schon, sich ins Arbeitszimmer begibt und es den ganzen Tag über nicht mehr verläßt, sogar die Mahlzeiten muß man ihm hineinservieren. So ist er in allem und jedem verändert. Zum Beispiel: er

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