Der falsche Mann
Staatsanwalt wandte sich dem vergrößerten Foto zu und deutete mit dem Zeigestock auf einen Sattelschlepper, der vor der Tankstelle parkte, parallel zur Straße und im rechten Winkel zu den Zapfsäulen, an denen kein einziger Wagen stand. » Dieser Tanklaster hat Ihnen nicht die Sicht versperrt?«
» Nein. Ich hatte ja am anderen Ende geparkt. Von dort aus konnte man die Straße rund um den Laster sehen.«
» Nur für das Protokoll – war das am äußeren westlichen Ende?« Der Anwalt setzte erneut den Zeigestock ein. » Am äußeren westlichen Ende der Tankstelle?«
» Richtig.«
» Die am weitesten westlich gelegene Reihe von Zapfsäulen?«
» Genau.«
» Und Sie befanden sich westlich dieser letzten Reihe mit Zapfsäulen?«
» Stimmt.«
» Und von dort aus sahen Sie das People’s Twenty-four, das vorhin bereits eingeführt wurde.« Der Anwalt ging zu einem weiteren Foto auf einem Stativ. » Gibt dieses Foto exakt Ihren Blickwinkel vom Fahrersitz Ihres Wagens aus wieder, während Sie in der Nacht der Schießerei auf der westlichen Seite der am weitesten westlich gelegenen Reihe Zapfsäulen parkten?«
» Ja, so hab ich es gesehen.«
» Und Sie konnten direkt auf die südlich gelegene Straße schauen, ohne von dem Tanklaster behindert zu werden?«
» Klar, das war kein Problem.«
» Und Sie sind sich sicher, Ms. Engles, dass die Person, die die Waffe abgefeuert und Malik Everson getötet hat, heute hier im Gerichtssaal sitzt?«
» Klar, es war Rondo.«
» Mit ›Rondo‹ meinen Sie Ronaldo Dayton.«
Am Tisch der Verteidigung stieß der Anwalt den Afroamerikaner neben sich leicht mit dem Ellbogen an. Der Mann erhob sich.
» Das da drüben ist Rondo«, erklärte die Zeugin.
» Würde das Protokoll bitte vermerken, dass die Zeugin den Angeklagten Ronaldo Dayton eindeutig identifiziert hat.« Der Staatsanwalt nickte zufrieden. » Keine weiteren Fragen«, sagte er.
Deidre seufzte. Der Ankläger hatte so viele Mittel zu seiner Verfügung. Eine Armee von Polizisten und Labortechnikern und Ärzten, tolle Fotos und Diagramme, alles, was einem Angeklagten wie ihrem Tommy fehlte. Es war ein so unglaublich einseitiger Kampf. Es sei denn, man hatte Geld.
Oder man hatte wahnsinniges Glück und fand einen guten Verteidiger.
» Guten Tag, Ms. Engels.« Der Verteidiger schlenderte in die Mitte des Gerichtssaals. Er war auf den ersten Blick nicht das, was sie von einem Anwalt erwartet hätte. Er wirkte mehr wie ein Footballspieler. Groß und breitschultrig. Eine eindrucksvolle Erscheinung. Und dem Gesichtsausdruck der Zeugin nach zu urteilen, empfand diese ganz ähnlich wie Deidre.
» Mein Name ist Jason Kolarich. Darf ich Sie Alicia nennen?«
» Klar, okay«, sagte sie. » Darf ich Sie Jason nennen?«
Sie kicherte ein bisschen. Ebenso wie einige aus der Jury.
» Ja, warum nicht?«, erwiderte er. Der Anwalt trug keine Notizen bei sich. Ein paar Schritte vor der Zeugin blieb er stehen, der Jury zugewandt. » Alicia, Sie haben doch eine Beziehung mit einem Mann namens Bobby Skinner, ist das richtig?«
» Ja.«
» Bobby ist der Vater Ihrer Tochter.«
» Ja.«
» Und Bobby ist Mitglied einer Straßengang, richtig? Der African Warlords?«
» Nicht mehr.«
» Nun, diesbezüglich sind wir vielleicht nicht ganz einer Meinung, aber wir stimmen zumindest darin überein, dass Bobby mal ein Warlord war.«
» Ja, war er.«
» Und er hat dort immer noch Freunde. Er hängt gelegentlich mit ihnen ab, richtig?«
» Er hat Freunde dort, ja.«
» Und mein Mandant hier, Ronaldo Dayton, ist Mitglied der Black Posse. Ist Ihnen das bekannt?«
» Klar, Rondo ist bei der Posse.«
» Und Ihnen ist weiterhin bekannt, dass die Posse und die Warlords nicht sonderlich gut miteinander auskommen?«
» Nee, die kommen nicht gut miteinander klar.«
» Und die Warlords wären vermutlich sehr damit einverstanden, wenn ein Mitglied der Posse für diesen Mord verurteilt würde, oder?«
» Einspruch«, sagte der Staatsanwalt.
» Stattgegeben«, sagte die Richterin, eine attraktive Frau mit grauen Haaren.
» Ihr Freund Bobby hat Sie aufgefordert, sich diese Geschichte auszudenken, richtig?«
» Einspruch.«
» Die Zeugin darf antworten.«
» Bobby hat nie so was gesagt«, protestierte die Zeugin.
Der Anwalt, Jason Kolarich, hatte offenkundig mit dieser Entgegnung gerechnet und war bereits beim nächsten Punkt, denn er nickte und trat einen Schritt nach rechts. Die Jury folgte ihm aufmerksam. Er hatte eine Respekt gebietende
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