Der Feind im Innern: Psychotherapie mit Täterintrojekten. Wie finden wir den Weg aus Ohnmacht und Gewalt? (German Edition)
kann, nichts mehr von der Welt zu wollen. Wer nichts fühlt, dem tut auch nichts weh. Wer einfach nur vorwärtstrabt, schmerzfrei und wie namenlos, kann nichts benennen. Wer nichts benennen kann, kann nichts begreifen, denn wir begreifen über Begriffe. Und so kann die „splendid isolation“, kann der Ritt durch die Wüste ein stolzes und abgegrenztes Gefühl machen – vielleicht sogar eines, das einem das Gefühl gibt, alles unter Kontrolle zu haben. „Alles easy“, „No problem“, „Alles klar“, „Alles o.k.“ – und wie’s da drinnen aussieht, geht niemanden etwas an. So leben durchaus viele Menschen. Und in vielen Menschen leben Zustände, Wesenheiten ..., die so denken.
Die wenigsten meiner schwersttraumatisierten KlientInnen – sie sind fast alle als Kind vielfach misshandelt und sexuell ausgebeutet worden, viele waren Opfer sogenannter „Kinderpornografie“ und „Kinderprostitution“, etliche sind immer noch mit Menschen verwickelt, die ihnen geschadet haben und es nach wie vor tun – die wenigsten also dieser KlientInnen würden im Alltag irgendwo auffallen. Sie gleiten durch die Schule, die Ausbildung, die Uni – bis sie irgendwann ganztags irgendwo berufstätig funktionieren müssen. Und dann geht auf einmal gar nichts mehr. Dann starren sie stundenlang auf ihren Bildschirm, ohne sich zu bewegen. Dann ertragen sie keine anderen Menschen mehr. Dann laufen sie türenknallend davon. Dann verkriechen sie sich im Bett und ziehen die Decke über den Kopf. Dann vermüllt ihre Wohnung. Dann brauchen sie eine Kur oder Hals über Kopf einen Psychiatrieaufenthalt, weil sie sonst nicht mehr leben könnten und sich immer wieder an den Bahngleisen wiederfinden. Dann schlucken sie, kaum wieder daheim, eine Überdosis gehorteter Tabletten und werden gerade noch gefunden. Dann fällt plötzlich auf, dass sie an den Innenseiten der Arme, der Oberschenkel oder anderswo Schnittnarben haben. Dann nehmen sie immer mehr Schmerzmittel oder trinken noch mehr Alkohol. Dann folgen Aufenthalte in psychosomatischen oder Suchtkliniken. Dann werden sie frühberentet, mit Anfang 30 zum Beispiel. Irgendwann im Laufe dieser „Karriere“ versuchen sie, eine ambulante Psychotherapie zu bekommen, möglichst von der Krankenkasse bezahlt. Dann beginnt ein Spießrutenlaufen: Alle guten TraumatherapeutInnen oder überhaupt gute PsychotherapeutInnen sind ausgebucht, ebenso alle guten stationären Traumatherapieprogramme. Die Kasse will nicht zahlen. Widerspruch. Es gibt ein paar Probestunden. Dann eine quälend lange Wartezeit. Wieder lehnt die Kasse den Antrag auf ambulante oder stationäre Psychotherapie ab. Suizidversuch. Albträume, Verlust der Alltagsstruktur. Verzweiflung. Es droht die dauerhafte Berentung und damit die lebenslange Armut ...
Dass es in ihrem Innern Zustände oder „Wesenheiten“ gibt, die mehr oder wenige milde oder wütend den Kopf schütteln und der Alltagspersönlichkeit sozusagen den Vogel zeigen: „Was strengst du dich eigentlich so an? Meinst du, es bringt etwas, wenn du deinen Jammer zu irgendwem trägst? Es kann dir doch sowieso niemand helfen – schau dir das Desaster doch an!“ – das verstehe ich gut (siehe auch Interview 7 , das Gespräch mit Sandra in diesem Buch).
Übertrieben? Keineswegs. Die Traumaabteilungen und psychosomatischen Kliniken sind voll mit jungen Frauen (und ein paar jungen Männern), die klug, begabt und kreativ sind und nicht – derzeit nicht, vielleicht nie mehr – arbeitsfähig. Viele andere Traumatisierte, vor allem männlichen Geschlechts, werden nicht in Kliniken landen – sondern im Gefängnis. Ein lebender Albtraum: So viele junge Menschen zu verlieren kann sich eigentlich keine Gesellschaft leisten. Aber warum ist das so?
Meine Vermutung ist: Unser Sozial- und Gesundheitswesen sowie unser System der Strafvereitelung oder juristischer Sanktionierung sind extrem ineffizient für diese jungen, früh traumatisierten Menschen. Statt ihnen so früh wie möglich so dezent und freundlich und niedrigschwellig wie möglich Unterstützung anzubieten – damit sie nicht sehr lange allein durch ihre „innere Wüste reiten“ und so tun müssen, als wäre alles in Ordnung –, wird das Thema familiärer Gewalt, sexueller Ausbeutung und komplexer Traumata weitgehend ausgeblendet. Man schaut nicht genau hin, geht nicht an die Seite dieser Mädchen und Jungen, fragt nicht: „Sag mal, du bist so blass, kann es sein, dass es dir gerade gar nicht so gut geht?“
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