Der Feind in deiner Nähe
nichts.
Worum geht’s?«
»Das hab ich dir doch erzählt. Zwölf Manager, die auf einem Floß einen Teich überqueren. Damit sie mehr Zusammengehö-
rigkeitsgefühl entwickeln. Was liegt bei dir denn heute an?«
»Ach, alles Mögliche. Möchtest du was zum Frühstück?«
»Mal sehen«, antwortete ich unentschlossen.
Beim Aufwachen war ich sicher gewesen, mein ganzes Leben lang niemals wieder etwas zu mir nehmen zu können, außer vielleicht Kaffee, aber nun überfiel mich schlagartig ein solcher Heißhunger, dass ich ganz zittrig davon wurde und schon befürchtete, vor Schwäche in Ohnmacht zu fallen. Hatte ich gestern überhaupt etwas gegessen? Ich ließ den Abend vor meinem geistigen Augen Revue passieren, als würde ich ein Video abspulen. Wir hatten viel geredet, getrunken und ge-raucht. Hin und wieder tauchte in meinem internen Video auch etwas Essbares auf, aber ich hatte es hauptsächlich auf meinem Teller herumgeschoben. Ich ging den Tag noch ein Stück weiter zurück. Das Mittagessen hatte ich ausfallen lassen und das Frühstück aller Wahrscheinlichkeit nach auch, obwohl ich schon um halb sechs aufgestanden war. Hatte ich mich womöglich in irgendeine neue Spezies Mensch verwandelt, die weder Schlaf noch Nahrung brauchte?
Ich stöberte im Kühlschrank herum, fand ein Stück Schweine-pastete, an dem ich ein wenig herumknabberte, und öffnete anschließend einen Joghurt. Es schmeckte alles wie Kreide, und die Kombination von zwei so unterschiedlichen Speisen machte es nur noch schlimmer. Was für eine seltsame Angewohnheit, dachte ich, Dinge aus der uns umgebenden Welt in den Mund zu nehmen, dort zu zerkauen und dann hinunterzuschlucken, um uns auf diese Weise zu erhalten. Allein schon der Gedanke hätte mir den Appetit verderben müssen, wäre da nicht dieses unbändige Verlangen in meinem Magen gewesen. Dabei handelte es sich eigentlich gar nicht so sehr um Appetit, sondern eher so etwas wie das Signal eines Roboters, das dieser aussen-det, wenn sein Akku aufgeladen werden muss.
Charlie musterte mich prüfend. »Hier, trink noch eine Tasse Kaffee. Ich kann dir auch was Anständiges machen, wenn du möchtest.«
»Kaffee ist schon in Ordnung.«
»Eier und Speck, ein Omelett, ein paar Würstchen, ach nein, Würstchen haben wir keine, und Speck auch nicht, wenn ich’s mir recht überlege, und was die Eier betrifft, bin ich mir auch nicht so sicher. Aber Brot ist da.«
»Nein, nein, schon gut«, sagte ich lachend – oder versuchte zumindest zu lachen. Es war, als würde ich gleichzeitig im Publikum sitzen und auf der Bühne stehen, mich selbst bei dem Versuch beobachten, eine normale Frau zu spielen.
»Was sind denn deine Pläne für gestern Abend?«
Charlie starrte mich verblüfft an. »Hast du gerade gestern Abend gesagt?«, fragte er.
»Nein. Oder etwa doch?«
»Gestern Abend war ich zu Hause. Heute Abend weiß ich noch nicht. Und du, hast du schon was vor?«
»Wir könnten was zusammen unternehmen oder es uns einfach gemütlich machen. Das wäre schön.« Ich ging zu ihm, fuhr mit den Händen in sein dichtes Haar und beugte mich hinunter, um seine angenehme morgendliche Frische zu riechen und einen Kuss auf seine Wange zu drücken. »Charlie?«
»Mmmm?«
»Ach, nichts.«
Ich wollte nach meiner Kaffeetasse greifen, stellte mich dabei aber so ungeschickt an, dass sie auf dem Boden landete und der Kaffee sich vor meinen Füßen ergoss.
»Lass nur«, sagte Charlie. »Ich mache das schon.« Er kauerte sich auf den Boden, sammelte die Bruchstücke ein und wischte den verschütteten Kaffee mit einer Küchenrolle auf.
»Ausgerechnet die Tasse, die wir in der Töpferei bei Brighton zusammen gekauft haben!« Ich war den Tränen nahe.
»Das kann ich reparieren.«
»Nein, kannst du nicht. Es tut mir so Leid!«
»Es ist doch nur der Griff, Holly. Schau. Wenn ich es geklebt habe, wirst du gar nicht mehr sehen, wo es gebrochen war. Lass mich nur machen.«
Ich starrte ihn an und dachte: Jetzt. Sag es ihm jetzt sofort.
Hetze nicht los in die Arbeit. Nimm stattdessen seine Hand und sieh ihm ins Gesicht. Rede ein einziges Mal in deinem dämlichen Leben offen und ehrlich mit ihm. Aber in dem Moment klopfte es laut an der Tür.
»Ich gehe schon«, sagte ich.
Es war Naomi von nebenan. Sie war Anfang des Jahres eingezogen und unsere einzige Freundin in der Straße. Sie sah ungekämmt aus. Ihre dunklen Locken standen wild vom Kopf ab, und sie trug Hausschuhe. »Ich komme zum Schnorren«, erklärte
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